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Bundestagswahl 2002 - Alptraum der Demoskopen

Mit ihrem Meßinstrument - der Sonntagsfrage - berichten die "Wahlforscher" von Allensbach bis infratest fast täglich über den Zustand der Nation. Wie in einem Schlußverkauf werden haufenweise Zahlen auf den Markt geworfen. Auf der Zielgeraden wird meist auch noch die Stelle nach dem Komma als Zugabe mitgeliefert, als sei mit einer Schieblehre gemessen und nicht mit einer Elle aus Gummi gewerkelt worden. Medien und Politiker weiden das hingehaltene Zahlenfutter für ihre Zwecke aus. Niemand fragt, wie die Musterwähler für Umfragen zusammengetrommelt werden und wie ihre weichen Antworten zu harten Prozentzahlen gebacken werden. Es wäre Aufgabe der Medien, auch darüber zu berichten.

Lange wurde der Untergang von Rot-Grün verkündet. Dann soll die Flut die SPD nach oben gespült haben und es wurde der Gleichstand ausgerufen. Nach dem zweiten TV-Duell soll Grün-Rot die Nase vorn haben. Doch Prognosen und Trendaussagen sind Wählertäuschung, denn sie basieren nicht auf Resultaten zur Sonntagsfrage. Diese sind wegen Unzulänglichkeiten der Erhebungen unbrauchbar. Das wird vertuscht. Als Kompaß auf hoher See dient die bisherige politische Stabilität. Ausgehend von der letzten Wahl werden politische Ereignisse monatlich (zur Zeit fast täglich) zu Prozentzahlen verwurstet und in die alten Wahlresultate eingearbeitet. Vermarktet werden Fortschreibungen alter Wahlresultate und nicht aktuelle Ergebnisse, im Klartext die Spekulationen der "Wahlforscher". Sie haben die Erfahrung gemacht, daß sie mit diesem Vabanque-Spiel in normalen Zeiten besser fahren. Gerät aber die politische Landschaft in Bewegung, dann fallen sie damit regelmäßig auf die Nase. Das hat man bei Landtagswahlen immer wieder gesehen. Auch bei der Bundestagswahl 1998 lagen sie bei der Union daneben und 1990 bei den Grünen.

Warum sind Ergebnisse zur Sonntagsfrage unbrauchbar? Für Umfragen werden etwa 300 bis 2000 Wahlberechtigte zufällig ausgewählt und befragt (in den neuen Bundesländern wenige Hundert). Die Telefonnummern werden ausgelost. Wenn der Politologe Dr. Thomas Bellut im ZDF-Politbarometer jeweils am Ende der Sendung die Bemerkung fallen läßt

"Die Forschungsgruppe Wahlen hat 1256 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Damit ist die Befragung aussagekräftig für die wahlberechtigte Bevölkerung in ganz Deutschland."

so handelt es um eine reine Schutzbehauptung, denn die ermittelten Parteistärken hängen offensichtlich von den Ausgelosten ab. Für die Umfrage im folgenden Politbarometer werden andere ausgelost, was zwangsläufig zu anderen Ergebnissen führt. Dadurch werden markante Veränderungen für mindestens eine Partei vorgetäuscht. Diese "Lotterieschäden" betragen bei 1250 Befragten für große Parteien bis zu 6% und für kleine bis zu 3%. Hinzu kommen kleine reale Änderungen. Diese sind nicht mehr meßbar, weil sie von den Lotterieschäden erschlagen werden. Werden 5000 Befragungen durchgeführt (also das Vierfache), dann halbieren sich die Lotterieschäden. Werden aber vier mal weniger Interviews durchgeführt (also etwa 300, wie das in den neuen Bundesländern häufig der Fall ist), dann verdoppeln sich die Lotterieschäden. Für die PDS im Osten entstehen dadurch gigantische Fehlerbereiche, die nur noch lächerlich vage Aussagen ermöglichen. Im Westen wird die PDS um etwa 1% herum vermutet - ein a priori hoffnungsloses Unterfangen für jede handelsübliche Meinungsumfrage. Wenn bei dieser Sachlage Allensbach die PDS in der FAZ mit 4,9% ans Kreuz schlägt, die Forschungsgruppe Wahlen im Politbarometer mit 4,5% und infratest-dimap in der ARD mit 4,7% das gleiche tun, dann hat das mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, wohl aber mit demoskopischem Übermut.

Die Konstanz der veröffentlichen Ergebnisse - die kleinen Veränderungen von Umfrage zu Umfrage - sind für einen Mathematiker der Beweis, daß an Resultaten systematisch herumgedoktert wird. Selbst wenn die politische Landschaft stabil wäre, die Umfrageergebnisse können es nicht sein. Denn die Zufallsauswahl sorgt für markante Sprünge.

Damit jedermann - auch Journalisten - die Auswirkungen der Zufallsauswahl sehen und erleben kann, habe ich diese als Computerspiel (Simulation) auf meiner Internetseite www.wahlprognosen-info.de präsentiert. Wer diese Simulations-Übungen absolviert und verdaut hat, dem werden "nackte" Prozentzahlen ohne Toleranzangaben wie saure Milch aufstossen. Mit solchen Toleranzgrenzen versehen haben die gegenwärtig kolportierten Prognosen keinen Informationswert mehr.

Weit größere Probleme als die Lotterieschäden verursachen die Ausgelosten: Sie sind nicht zu Hause oder verweigern die Antwort, sie sind noch unentschlossen oder machen falsche Angaben usw. Die Ausfallrate beträgt oft mehr als 50% und diese "schweigende Mehrheit" bildet die Achillesferse jeder Umfrage. Aus all diesen Gründen haben die "Wahlforscher" die Sonntagsfrage längst zu einem Ritual degradiert und durch "Gewichtungskunst" ersetzt. Dieses Vabanque-Spiel mit der politischen Stabilität ist Wählertäuschung und wäre eigentlich strafbar (StGB § 108a). Der Tatbestand der Täuschung "Erstellung oder Vorspiegelung falscher bzw. Unterdrückung wahrer Tatsachen" ist für Meinungsforscher bei der Sonntagsfrage zur Routine geworden. Getäuscht werden vor allem taktische Wähler, die Erst- und Zweistimme nicht der gleichen Partei geben.

In einer Atmosphäre, die wie nie zuvor emotional geladenen ist, haben die "Wahlforscher" gute Aussichten, sich mit ihrer Fortschreibungsmethode eine blutige Nase zu holen. Denn das porträtierte Kopf-an-Kopf-Rennen mit leichtem Vorteil für Rot-Grün ist keine Einschätzung der aktuellen Situation auf der Basis von Daten - die verheimlichten Rohdaten sprechen eine ganz andere Sprache -, sondern der Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit in einer Situation, in die sich die Demoskopen durch haltlose Versprechen manövriert haben. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Deutschen am Abend des 22. Septembers in einer andern Landschaft aufwachen, als es ihnen von den Meinungsforschern verheißen wurde.


Prof. Dr. F.Ulmer

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