"Wahlprognosen sind Wählertäuschung"

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Interview mit Fritz Ulmer, Professor an der Universität Wuppertal.


Frage: Weshalb sind Prognosen Wählertäuschung?

Fritz Ulmer: Die Leute glauben, Prognosen seien das Ergebnis von Umfragen. Dabei werde die Sonntagsfrage gestellt: "Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre?" Die Antwort der Befragten sei dann die Prognose. Aber das ist überhaupt nicht so! Die Prognose beinhaltet nicht das, was bei der Sonntagsfrage heraus gekommen ist.

Frage: Werden die Ergebnisse geschönt?

Ulmer: Und wie! Das ist bei der Sonntagsfrage üblich und gehört schon fast zum guten Ton. Frau Prof. Elisabeth Noelle - die große alte Dame der deutschen Meinungsforschung - hat sich öffentlich damit gebrüstet, daß sie die Ergebnisse bis zu 11% abändert, bevor sie sie publiziert.

Frage: Machen das andere Meinungsforscher auch?

Ulmer: Ja, das machen wohl alle. Manfred Güllner, der Chef von Forsa und Datenlieferant für den Stern und RTL, hat sogar einen Artikel über den geschönten Wähler geschrieben (die Woche).
Ich hatte Zugang zu den Original-Daten vom ZDF-Politbarometer. Ich habe Abweichungen von bis zu 9% festgestellt. Kurz vor den Bundestagswahlen 1987 und 1994 wurde die absolute Mehrheit für die Union wegretuschiert. Der SPD wurde unter die Arme gegriffen, als sie unter tiefen Umfragewerten litt. Die Zahlen der FDP wurden monatelang fast verdoppelt, als sie unter der 5%-Hürde strampelte. Die Grünen wurden mit Wechselbädern nachbehandelt. Als ich dies publik machte, wurde ich auf Widerruf verklagt. Ich sollte zwar nicht wie Galileo auf den Scheiterhaufen. Aber zwei Jahre Gefängnis oder eine halbe Million Mark Buße sollte ich kriegen, falls ich mich nicht beuge.

Frage: Haben Sie widerrufen?

Ulmer: Nein. Die Gerichte haben mir Recht gegeben. Seither darf ich quasi mit höchst-richterlichem Segen die Botschaft verkünden, daß im ZDF-Politbarometer die Ergebnisse zur Sonntagsfrage geschönt sind.

Frage: Wie werden die Resultate zur Zeit geschönt?

Ulmer: Das weiß ich nicht, weil die Ergebnisse unter Verschluß gehalten werden. Beim ZDF-Politbarometer kann man die ungeschminkten Ergebnisse zur Sonntagsfrage unter der Graphik politische Stimmung finden, man kann dies finden in www.wahlrecht.de/umfragen unter der Rubrik Forschungsgruppe Wahlen. Demnach kam die Union am 13. September auf 35% und die SPD auf 45%. FDP und Grüne hatten 8% bzw. 7% und die PDS 3%. Mit andern Worten, Rot-Grün hatte eine Mehrheit von 53%. Das wurde jedoch so nicht dargestellt. Im Internet wurde unter der Sonntagsfrage völlig andere Zahlen veröffentlicht. Die Union und die PDS erhielten eine Mutspritze von +2% (auf 37%) bzw. von +1,5% (auf 4,5%). Grüne und FPD mußten einen kleinen Obolus von -1% bzw. -0,5% entrichten und wurden mit 7,5% bzw. 7% plakatiert. Der SPD hingegen wurde eine Schmerzspritze von -5% verabreicht, von 45% auf 40%.

Frage: Warum werden die Ergebnisse zur Sonntagsfrage gefälscht? Ist das politisch motiviert?

Ulmer: Nein. Die Linken und die Rechten fälschen auf die gleiche Weise. Der Grund liegt woanders. Zum Beispiel können sich die Produzenten des ZDF-Politbarometers einfach nicht vorstellen, daß das Umfrageergebnis vom 13. September als Wahlresultat möglich ist. Aus Angst vor einer falschen Prognose werden Korrekturen gemacht.
Meinungsforscher sind gebrannte Kinder. Sie haben die Erfahrung gemacht, daß Ergebnisse zur Sonntagsfrage wenig Brauchbares für Trends und Prognosen liefern. Von einer Umfrage zur nächsten können große Änderungen in den Parteistärken eintreten, obwohl politisch gar nichts passiert ist. Das sieht wie ein grober Fehler aus. Deshalb wird routinemäßig an den Ergebnissen herumgedoktert.

Frage: Wie erklären sich diese Sprünge, die politisch nicht nachvollziehbar sind?

Ulmer: Das liegt an der Art und Weise, wie Umfragen durchgeführt werden. Es werden meist etwa 1000 bis 2000 Telephonnummern ausgelost. Die Leute werden angerufen und befragt. Somit hängt das Ergebnis von den ausgelosten Wahlberechtigten ab. Für die nächste Umfrage werden andere ausgelost, was zwangsläufig zu etwas anderen Resultaten führt. Für große Parteien entstehen so Unterschiede bis zu sechs Prozent und für Kleine bis zu drei. (Berechnungsgrundlage 1250 Interviews, 80% Wahlbeteiligung, Sicherheitswahrscheinlichkeit 95%) Dabei ist eine Änderung in der politischen Stimmung noch nicht berücksichtigt.

Frage: Wie kann man als Laie die Auswirkungen der Zufallsauswahl verstehen?

Ulmer: Damit dies für jedermann nachvollziehbar ist, habe ich auf meiner Internetseite www.Wahlprognosen-info.de die Zufallsauswahl für Umfragen als Computerspiel programmiert.

Frage: Weshalb liefern Umfragen zur Sonntagsfrage wenig Brauchbares?

Ulmer: Aus dem gleichen Grund. Eine Umfrage ist ein sehr grobes und ungenaues Meßinstrument. Man kann mit einem Zollstock auch keine Millimeter-Bruchteile messen wie mit einer Schieblehre. Aber genau das täuschen die Meinungsforscher vor. Sie tun so, als könnten sie genaue Prozentzahlen ermitteln. In Wirklichkeit können sie nur grobe Schätzungen machen. Für eine Umfrage wie im ZDF-Politbarometer oder in der ARD beträgt die Ungenauigkeit bei den großen Parteien etwa 8% und für die kleinen 4%.

Frage: Man kann also nicht herausfinden, ob die CDU bei 37% liegt und die SPD bei 40%? Oder daß die Grünen auf 7% kommen und die FDP auf 7,5%? Und ob die PDS die 5%-Hürde schafft?

Ulmer: Nein. Das ist vollkommen unmöglich.
Man kann nur feststellen, daß CDU/CSU wahrscheinlich zwischen 33% und 41% liegt und die SPD zwischen 36% und 44%. Die Grünen zwischen 5% und 9%, die FDP zwischen 5,5% und 9,5% und die PDS zwischen 2,5% und 6,5%. Aber selbst für diese nichtssagende Prognose besteht ein Restrisiko, daß sie falsch ist.

Frage: Aber das ist ja absurd. Das weiß jeder, dafür braucht man keine Umfrage!

Ulmer: Das ist richtig und wird deshalb verschwiegen. Die Medien könnten es sich nicht leisten, so etwas zu veröffentlichen. Umfragen zur Sonntagsfrage dienen quasi als Alibi. Prognosen werden ohnehin ganz anders gemacht.

Frage: Hat jeder Umfrage-Koch sein eigenes Rezept oder machen es alle auf die gleiche Art?

Ulmer: Wie das bei Köchen so ist, schwört jeder auf sein eigenes Rezept. Vor den Wahlen kommt man ihnen nicht auf die Schliche. Aber nach den Wahlen wird es sonnenklar, wie dieses Spiel läuft. Alle machen es im Prinzip auf die gleiche krumme Tour. Deshalb gleichen sich Prognosen oft wie ein Ei dem andern.

Frage: Wie werden Prognosen nach den Wahlen gemacht, wenn sich niemand mehr dafür interessiert?

Ulmer: Man hält sich an das Ritual und führt eine Umfrage durch. Das Ergebnis schmeißt man unbesehen in den Müll. Als Resultat schreibt man das amtliche Wahlergebnis hin, das gerade einen Monat alt geworden ist.

Frage: Aber das kann doch jeder!

Ulmer: Ja schon. Aber nur Meinungsforscher schaffen es, dafür Tausende Euros zu kassieren.

Frage: Und im zweiten Monat nach der Wahl und danach?

Ulmer: Läuft das Spiel genau so weiter. Mit der Zeit werden die Parteistärken behutsam verändert, wenn die Meinungsforscher im Urin spüren, das sich etwas verändert hat. Gewichtungs-Kunst heißt dies im Jargon der Demoskopen. Politische Ereignisse werden monatlich (zur Zeit fast täglich) zu Prozentzahlen verwurstet. Ein Prozent wird dazu- oder abgezählt, ausnahmsweise auch mal zwei. Meist aber bleiben die Zahlen unverändert. Die Konstanz der veröffentlichten Zahlen - d.h. die geringen Veränderungen von einer Umfrage zur nächsten -, ist für einen Mathematiker der Beweis, daß da systematisch geschummelt wird. Die Zufallsauswahl würde für eklatante Sprünge sorgen.

Frage: Die ganze Weisheit von Prognosen besteht also darin, die alten Zahlen abzuschreiben und manchmal ein oder zwei Prozente dazu- oder abzuzählen?

Ulmer: Ja, mehr steckt wirklich nicht dahinter. Aber wie sich die Parteistärken zwischen Wahlen tatsächlich verändern, das weiß kein Mensch.

Frage: Dann ist die politische Stabilität in Deutschland die wirkliche Basis für Prognosen und nicht Umfrageresultate. Prognosen sind also Stammtischschätzungen von Meinungsforschern. Und wenn sich in der politischen Landschaft etwas ändert?

Ulmer: Dann fallen die sie regelmäßig auf die Nase, wie man das bei Landtagswahlen des öfteren gesehen hat. Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt, Hamburg, Berlin usw. lagen die Prognosen für die CDU, SPD und Schill-Partei fünf bis acht Prozent daneben. Aber auch bei der Bundestagswahl 1998 gingen die Prognosen baden, die von einem knappen Rennen faselten. Die CDU/CSU erhielten dann drei Prozent weniger als vorausgesagt und das war das Ende der Ära Kohl. Die größte Pleite aber war Frau Noelle vorbehalten. Nachdem sie vor der Bundestagswahl 1990 den Grünen in der FAZ wochenlang 10% prophezeit hatte, scheiterten diese an der 5%-Hürde. Am Wahlabend stieg sie in Sat 1 mit 8,5% auf die Bühne. Minuten später stand sie fassungslos und händeringend im Regen.

Frage: Was raten Sie den Wahlberechtigten?

Ulmer: Sie sollen sich nicht von Wahlprognosen beeinflussen lassen. Sie sollen zur Wahl gehen und das wählen, was sie für richtig halten. Insbesondere die taktischen Wähler, die ihre Stimme splitten möchten, sollten sich zweimal überlegen, ob das wirklich ihren Absichten entspricht. Sie müssen sich bewußt sein, daß sie in Wirklichkeit nur eine Stimme haben, die zählt: nämlich die Zweitstimme (für die Partei). Denn eine Erststimme für die FDP und die Grünen ist fast sicher für die Katz, weil diese doch keine Direktmandate schaffen. Für die PDS ist das nur in denjenigen Wahlbezirken im Osten sinnvoll, wo die PDS eine Aussicht auf ein Direktmandat hat.

Frage: Sind Politiker und die Medien süchtig nach Umfragen und Prognosen?

Ulmer: Wir leben im Zeitalter der Zahlengläubigkeit und des demoskopischen Übermutes. Politiker und Journalisten ziehen sich die Zahlen rein wie Junkies ihren Stoff. Während Junkies vom Entzug träumen, denken Politiker und Journalisten nicht im Traum daran, ihrem Stoff abzuschwören.
Früher haben sich die Mächtigen Hofnarren gehalten. Heute würden sie sich Meinungsforscher anschaffen. Denn ohne diese geht nichts mehr in der Politik. Der Medienkanzler wagt es nicht mehr, sich im Bett umzudrehen, ohne vorher seinen Meinungsforscher um Rat gefragt zu haben. Stoiber wagt es zwar ohne kirchlichen Segen mit Angela durch ganz Deutschland zu turteln, aber nicht ohne vorher bei seinem Meinungsforscher gebeichtet zu haben.

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