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FAZ.net, 30. April 2002

Meinungsforschung

Die Sonntagslüge

Von Stefan Hütig


30. April 2002 Selbst überraschende Ergebnisse wie zuletzt bei der Wahl des französischen Präsidenten oder in Sachsen-Anhalt können den Glauben an die Demoskopie nicht erschüttern. „Zahlen beweisen“, heißt es. Also starren Wahlvolk wie Wahlkämpfer jede Woche auf die jüngsten Umfragen. Dabei können nicht nur die Zahlen der Wahlforscher lügen, sondern auch die Befragten.

Gerade die beliebte Frage „Wen würden Sie direkt zum Bundeskanzler wählen“, ist in einer parlamentarischen Parteiendemokratie rein hypothetisch. Dennoch messen ihr Politiker und Medien gleichermaßen eine immense Bedeutung bei. Dass die Ergebnisse dabei unterschiedlich bis zur Beliebigkeit sind (siehe Grafik), scheint die Zahlenhungrigen nicht zu stören.

Fehlerquote schon statistisch bedingt

Die Ursachen der Abweichungen sind vielfältig: Schon rein statistisch ergibt sich etwa bei Umfragen zu den Volksparteien SPD und Union eine Fehlerquote von etwa zwei bis drei Prozent. In beide Richtungen und bei allen Meinungsforschungsinstituten.

Liegen etwa, wie bei der jüngsten Forsa-Umfrage, die SPD bei 34 Prozent sowie CDU und CSU bei 39 Prozent, so kann sich die Wählergunst tatsächlich genau umgekehrt verhalten.

Ausfallquote beeinträchtigt Aussagekraft

„Die korrekte Aussage, die SPD liegt bei 30 bis 40 Prozent und die CDU/CSU bei 35 bis 45 Prozent wirkt hingegen absurd“, sagt der Wuppertaler Statistik-Professor Fritz Ulmer, einer der schärfsten Kritiker der vermeintlichen Zahlenakrobatik. In dieser Form würde kein Auftraggeber die Zahlen akzeptieren. „Also wird die Fehlerbreite der Scham geopfert, und auf dem Bildschirm erscheinen splitternackte Zahlen.“

Es sei obendrein unmöglich, aus sämtlichen Wahlberechtigten eine Gruppe von 1000 bis 2000 Personen auszuwählen, stellvertretend für alle. „Der repräsentative Durchschnitt als Miniaturbild der wahlberechtigten Bevölkerung ist eine mathematisch-statistische Utopie“, lautet das Urteil Ulmers.

Und nicht zuletzt: „Die Meinungsforscher verschweigen, dass sie von über 50 Prozent der Angerufenen keine Informationen bekommen.“ Damit repräsentieren die Umfragen nicht die Meinung der Gesamtbevölkerung, sondern bilden lediglich den Trend der Antwortenden ab. „ Die Ausfallquote ist die eigentliche Achillesferse jeder Meinungsumfrage.“

Auf die Frage kommt es an

Eine weitere Fehlerquelle ist die Fragestellung. „Mit jeder Frage geben Sie Stimuli vor“, räumt Torsten Schneider-Haase vom Institut Emnid ein. Das wohl berüchtigteste Beispiel stammt aus dem Jahr 1983 und betrifft das damals heftig umstrittene Thema der Nato-Nachrüstung.

"Die Sowjetunion hat eine Vorrüstung gegenüber der Nato mit den neuen SS 20 Raketen erreicht. Diese bedrohen die Bundesrepublik. Sind Sie für oder gegen die Nachrüstung der Nato?" Mit dieser Formulierung wollte das Verteidigungsministerium die Zustimmung im Volk zur Nachrüstung ausloten. Im Ergebnis stimmten etwa 55 Prozent der Befragten für die Verteidigungspolitik der Regierung Kohl.

Im Auftrag der Grünen lautete die Frage: "Die Bundesrepublik hat schon die größte Dichte an stationierten Raketen. Sind Sie für oder gegen eine weitere Aufstellung von neuen Raketen?" Prompt lehnten es mehr als die Hälfte der Befragten ab, dass weitere atomare Sprengköpfe in der Bundesrepublik postiert werden.

Sprachliche Feinheiten beeinflussen das Ergebnis

Doch nicht immer sind die Fragestellungen so offensichtlich tendenziös. „Sie erhalten schon Unterschiede“, erklärt Schneider-Haase , „wenn Sie danach fragen, für wen Sie am Wahltag ,letztlich endscheiden' oder wen Sie ,sympathischer' finden“.

Selbst der Zeitpunkt, wann im Verlauf des Interviews die Sonntagsfrage gestellt wird, ist in den Augen des Politologen Andreas Hahn nicht ohne Einfluss: „Während einer Befragung bildet der Befragte sich eine Meinung zum Thema und entscheidet dann am Ende oft anders als am Anfang.“ Außerdem gibt es täglich große Schwankungen.

Folgenschwere Gewichtung

Um solche und andere Quellen für Ungenauigkeiten zu beseitigen, werten die meisten Institute die gewonnenen Daten nach einem bestimmten Schlüssel. Beispiel: Das Allensbacher Institut veröffentlich nicht die reinen Umfragedaten, sondern gewichtet das Rohmaterial nach der so genannten „Recall“-Methode. Dabei werden die Kandidaten zunächst nach ihrer Entscheidung bei der vorangegangenen Wahl befragt. Auch erkundigen sich die Allensbacher als einzige Meinungsforscher nach der Zweitstimme. Das Ergebnis wird mit dem Ausgang der vorigen Wahl verglichen.

„Andere Institute haben andere Berechnungsmodi, über die sie in der Öffentlichkeit aber schweigen“, erklärt Hahn. Bei der Forschungsgruppe Wahlen nennt sich das Verfahren „Projektion“. Zum Teil werden auch tendenzielle, längerfristige Bindungen an die Parteien mit hineingerechnet und im Ergebnis wiedergegeben.

„Die gemessene Volkmeinung landet im Müll“

Beide Verfahren, also Rohdaten oder Gewichtungsdaten zu veröffentlichen, sind in der Fachwelt umstritten. „Es gehört zum guten Ton in dieser Branche, dass die gemessene Volksmeinung“, also die Rohdaten, „regelmäßig - aber nachweisbar - im Müll landet“, kritisiert Ulmer vor allem die Allensbacher Forscher. Stattdessen würden die alten Wahlresultate einfach fortgeschrieben.

„Aus unserer Umfrageerfahrung wissen wir, dass es ein Meinungsklima gibt, das die Nennung von bestimmten Parteien unterdrückt“, entgegnet Edgar Piel vom Allensbacher Institut den Vorwürfen. „Wir können niemanden zwingen, die Wahrheit zu sagen, deswegen gewichten wir - und unsere Ergebnisse geben uns Recht.“

Vernichtende Bilanz

Die Gewichtung von Umfragen werde zunehmend schwierig, ist Hahn jedoch überzeugt, da „die Parteibindungen auch immer mehr abnehmen“. Gleichzeitig neigten mehr Bürger dazu, „adhoc zu entscheiden“. Ulmers Bilanz sämtlicher Wahlforschung fällt vernichtender aus: „Soweit es die nächste Bundestagswahl betrifft, kann die tatsächliche Volksmeinung nicht gemessen werden.“

Text: @hüti
Bildmaterial: FEM

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