Wahl in Brandenburg 2004

Es ist Wahl, doch wer geht hin?

Am 19. September 2004 sollten die Bürgerinnen und Bürger von Brandenburg zur Wahl gehen und den Landtag neu bestallen. Begeisterte Wähler waren die Brandenburger bisher nicht. Bei der Wahl 1999 bemühten sich 54% an die Urne. Der Trend zu niedriger Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen dürfte sich auch in Brandenburg fortsetzen, es sei denn, die DVU (und PDS) werden zum Überdruckventil für verhartzte Wähler.

Rückblick: Leichenschau in Zahlenfriedhöfen

Mit Wahlen im Osten tun sich Meinungsforscher bekanntlich schwer. Wie man der folgenden Tabelle entnehmen kann, lagen die Prognosen 1999 für Brandenburg gänzlich daneben. Dass das kein Einzelfall ist, kann man dem Abschnitt "Grabmal für die unbekannte Fehlprognose" entnehmen, man goutiere die demoskopischen Glanzleistungen für Thüringen und die Europawahl 2004.

Landtagswahl Brandenburg 5.9.99

CDU SPD PDS Grüne FDP DVU Institut Datum
23 44 23 2 2 4 Forsa 13.8.99
23 44 23 2 1 5 Infratest-dimap 30.8.99
26,5 39,3 23,3 1,9 1,1 5,3 Wahlergebnis 5.9.99

Das Prognosenfiasko vor fünf Jahren ist längst Schnee von gestern. Heute interessiert nicht Leichenschau in Zahlenfriedhöfen, sondern brandneue Zahlen.

Prognosen

Datum Quelle
(Institut)
CDU SPD Grüne FDP PDS DVU Befragte
(Wahlbeteiligung1)
Fehler-
bandbreite2
10.09. ZDF
( Forsch'gr. Wahlen )
23% 29% 6% 5% 27% 6% 1034
(-)
3,2 bis 6%
09.09. Märkische Allgemeine
(Infratest-Dimap)
24% 27% 5% 4% 31% 5% 1000
(ca 55 %)
2,8 bis 6,2%
07.09. Stern
(Forsa)
23% 28% 4% 2% 35% 4% 1003
(-)
6%
04.09 Berliner Morgenpost
(Emnid)
25% 29% 5% 4% 31% 3% 751
(-)
-
01.09. SPD
(Infratest)
22% 28% 5,5% 4% 34% 3,5% 1000
(-)
-
24.08. Stern
(Fosra)
22% 27% 4% 3% 36% 4% 1009
(-)
6%
11.08. Märkische Allgemeine
(Infratest-Dimap)
26% 28% 5% 4% 29% 4% 1000
(40%)
2,8 bis 6,2%
09.08. SPD
(Forsa)
27% 32% 3% 3% 30% - 1001
(-)
-
29.07. CDU
(Usuma)
36% 31% 5% 4% 22% - 1007
(-)
-
03.06. SPD
(Forsa)
30% 33% 6% 3% 22% - 1000
(-)
-
  1. Ein beträchtlicher Anteil der Wahlberechtigten macht bei der Befragung keine verwertbaren Angaben (Nichtwähler, Unentschlossene (weiß nicht)). Unter Wahlbeteiligung wird der prozentuale Anteil der Wahlberechtigten in der Umfrage verstanden, die angeben, dass sie an der Wahl teilnehmen werden und sich für eine Partei entschieden haben. Über das Wahlverhalten der großen Gruppe der demoskopischen "Abstinenten" (Nichterreichbare, Interviewverweigerer und -abbrecher) ist damit nichts ausgesagt.
  2. Institute geben neben den Umfrageresultaten (z.B. Union 30%, Grüne 6% usw.) eine sogenannte Fehlertoleranz an (z.B. ±3%), was von den Medien meist unterschlagen wird (der Stern macht da eine Ausnahme). Damit signalisieren die Institute dem Sachkundigen, dass sie für die verkündeten ganzen Prozentzahlen nicht gerade stehen, weil diese mit unvermeidlichen Fehlern behaftet sind. Sie überlassen es allerdings den Kunden (Lesern), das tatsächliche Umfrageresultat selber zu "berechnen".

Die Wahlbeteiligung ist die Achillesferse jeder Prognose

Die Wahlbeteiligung ist die Achillesferse jeder Prognose. Die Institute jammern zwar unisono über das mangelnde Wählerinteresse, aber mit einer Ausnahme wurden keine Zahlen genannt.

Als Paradebeispiel sei das ZDF-Politbarometer vorgeführt, das mit der vorläufig letzten Prognose zur Brandenburgwahl aufwartete. Da wird viel Zahlenzauber präsentiert und Klagen über das mangelnde Wählerinteresse vorgetragen. Aber eine Aussage darüber, wieviele der 1034 Befragten eine definitive Antwort auf die Sonntagsfrage gegeben haben, wurde tunlichst vermieden. Offensichtlich sollte dem ZDF-Konsumenten nicht verraten werden, dass das ZDF-Politbarometer auf den Aussagen einer lächerlich kleinen Anzahl von Wahlberechtigten in Brandenburg beruht. Die Moderatorin, Bettina Schausten, gelernte Katholikin und seit Januar 2003 erste Geigerin in der ZDF-Hauptredaktion Innenpolitik, inszenierte die farbenprächtige Show mit bewährter Liturgie: Prunkvolle Grafiken und geschminkte Prozentzahlen, musikalisch umrahmt von demoskopischer Lautmalerei. Fürwahr eine gelungene ZDF-Produktion - ganz im Stil von "son et lumière" -, es fehlte nur noch das Schloss Sans Souci als Hintergrundkulisse.
Es ist paradox: Die Wahl rückt näher und in die Schlagzeilen, aber punkto Wahlbeteiligung steckt die sonst so aufgestellte Augurin den Kopf in den Sand. Es sei denn, man betrachte die Aussage "Ein Viertel der Befragten, die eine Angabe zur Parteipräferenz machten, erklären auf Nachfrage, sie könnten ihre Meinung ändern" als Ersatz dafür, was allerdings nur Wasserköpfe zu trösten vermag. Denn die Gretchenfrage, wieviele der 1034 Befragten überhaupt eine Angabe zur Parteipräferenz gemacht haben, wird damit umschifft. Wenn Meinungsforscher die Wahlbeteiligung mit Umfragen nicht vorauszusagen wagen (bzw. können), welchen Stellenwert haben dann Prognosen über Parteistärken, die darauf basieren? Dahinter versteckt sich etwas, was Meinungsforscher aus leidlicher Erfahrung schon lange wissen:

Der repräsentative Querschnitt ist hochgradig unrepräsentativ

Bei einer Wahlumfrage soll jeder Wahlberechtigte die gleiche Chance haben, befragt zu werden. Die Meinungsforscher behaupten wider besseres Wissen, dass unter dieser Voraussetzung die Umfrage "repräsentativ" sei. Das Umfrageergebnis wird einfach auf die Gesamtheit aller Wahlberechtigten übertragen. Sie berufen sich dabei auf die Statistik, die aber eine Aussage in dieser Form nie gemacht hat. Otto Normalverbraucher würde hell aufhorchen, wenn ihm klar gemacht wird, dass der repräsentative Querschnitt kein verkleinertes Abbild der Wahlbevölkerung ist, sondern mit Hilfe der Landeslotterie erstellt wird: Jeder Wahlberechtigte erhält ein Los und die unglücklichen Gewinner werden damit bestraft, dass sie von einem Interviewer zur Unzeit angerufen und mit einem Fragebogen auf Endlospapier bombardiert werden. Nein, nein, versuchen ihn die Meinungsforscher zu beschwichtigen. Dieses Problem hätten sie mit der statistischen Fehlertoleranz im Griff. Otto N. kann es nicht fassen: "Toleranz für Fehler der Meinungsforscher?" Das sei doch wohl nicht der Sinn von Wahlprognosen. Weil Otto N. nicht locker lässt, müssen die genervten Prognostiker schließlich mit etwas herausrücken, was sie sonst immer unter dem Deckel halten: Mit einer Umfrage können sie keine exakten Prozentzahlen ermitteln, sondern nur lächerlich vage Bereiche, beispielsweise:

PDS 25-35%, SPD 25-35%, CDU 20-30%, Grüne 3-8%, FDP 3-8%, DVU 3-8%.

Diese Fehlerbandbreiten sind der Preis für die Zufallsauswahl von 1000 Wahlberechtigen, von denen die Hälfte keine definitive Angabe über die Parteipräferenz macht. Die Zufallsauswahl gilt in der Prognosenindustrie als Qualitätsmerkmal. Doch Otto N. schaudert es bei dem Gedanken: Je zufälliger, desto besser?? Deshalb wird von Meinungsforschern und ihren Auftraggebern (den Medien) die Vorstellung vom verkleinerten Abbild liebevoll gepflegt. So bleibt der repräsentative Querschnitt, was er immer war: Eine Augenwischerei der Meinungsforscher und der Medien. Sie wollen mit diesem Etikettenschindel Umfragergebnissen den Anstrich von Glaubwürdigkeit verleihen und sie vom Stallgeruch der Lottozahlen befreien.

Falsche Formel für die statistische Fehlertoleranz

Die von den Meinungsforschern im Kleingedruckten eingeräumten statistischen Fehlertoleranzen sind kleiner als die oben genannten Fehlerbandbreiten von ±5% für CDU, PDS und bzw. ±2.5% für FDP, Grüne und DVU. Das liegt daran, dass sie eine falsche Formel für deren Berechnung verwenden (die sogenannte Binomialverteilung). Diese Formel kann nur angewendet werden - was Meinungsforscher einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen -, wenn in der Umfrage nur nach zwei Parteien gefragt wird und die Wahlbeteiligung 100% beträgt. Das ist natürlich absurd. Grundsätzlich gilt: Je mehr Parteien in der Umfrage genannt werden können und je weniger Leute die Sonntagsfrage konkret und definitiv beantworten, desto vager werden die Aussagen über Parteistärken. Meinungsforscher bestreiten dies und behaupten, nur die Anzahl der Befragten sei relevant, die Anzahl der Parteien und die Wahlbeteiligung spiele keine Rolle. Dass das eine unsinnige Behauptung ist, kann Otto Normalverbraucher sogar seinen Stammtischkollegen klarmachen. Wenn nämlich 1000 Wahlberechtigte ausgelost und befragt werden, aber nur 10 Ausgeloste die Sonntagsfrage konkret und definitv beantworten und die andern 990 sich als Nichtwähler oder Unentschlossene outen, dann ist fast jedes Umfrageergebnis möglich. Überspitzt formuliert: Die Fehlertoleranz beträgt ±100%. Die Fehlertoleranz hängt entscheidend von der Wahlbeteiligung ab. Das hat für die Brandenburgwahl Konsequenzen: Die Zufallsauswahl des "repräsentativen Querschnittes" beschert den Meinungsforschern Umfrageergebnisse, die mit gigantischen Fehlertoleranzen gesegnet sind und die von ihnen genannten Werte weit übersteigen. Das dürfte Otto Normalverbrauchers Fantasie von Lottozahlen beflügeln.

Wie werden Umfragen gemacht

Für eine Wahlumfrage werden einige tausend Telefonnummern in Brandenburg ausgelost und von Interviewern abgegrast. Falls ein Anruf in einem Haushalt mit Wahlberechtigten landet, dann wird einer von ihnen ausgelost und befragt. Das setzt voraus, dass alle Wahlberechtigten dieses Haushalts anwesend sind. Am besten sitzen sie um einen Tisch herum und einer wird unter Anleitung des Interviewers ausgeknobelt. Der Ausgeloste lässt den Fragebogen stoisch-masochistisch über sich ergehen. Er lässt sich buchstäblich ein Loch in den Bauch fragen und antwortet unentwegt wahrheitsgetreu. Es ist evident, dass diese Vorgehensweise eine enorme Ausfallrate zur Folge hat.

Ausfallrate - Demoskopische Abstinenten und Spielverderber

Zum Beispiel musste das ZDF-Politbarometer nach eigenen Angaben im Februar 1998 rund 3500 Telefonnummern auslosen und abklopfen um die angestrebte Zahl von etwa 1250 Interviews zu erreichen. Das heißt, dass die große Mehrheit (etwa zwei Drittel) der ausgelosten Telefonnummern keine Information liefert. Die Wahlberechtigten, die sich hinter diesen Nummern "verbergen", sind sozusagen demoskopische Abstinenten, aber deswegen haben sie ihr Stimmrecht nicht verloren. Von den etwa 1250 tatsächlich Befragten outen sich bei der Sonntagfrage (Bundestagswahlen) etwa 250-400 als Nichtwähler oder Unentschlossene (d.h. ca. 20-35%), bei Landtagswahlen meist deutlich mehr. Bei der Wahl in Brandenburg dürfte dieser Anteil zwischen 40 und 60% betragen. Diese beiden Gruppen - Nichtwähler und Unentschlossene - haben ein beträchtliches Potential als demoskopische Spielverderber.

Warum liefern Umfragen manchmal völlig falsche Ergebnisse?

Die rund 3500 ausgelosten Telefonnummern liefern also im Normalfall eine Ausbeute von nur etwa 800 - 1000 "ausgefüllten Wahlzetteln", in Sachsen ist die Ausbeute wesentlich geringer. Diese Restkollektion wird dann als repräsentativer Querschnitt deklariert und vermarktet. Es ist unbestreitbar, dass eine derartige Sammlung ein bunt zusammengewürfelter Haufen sein kann, aber offensichtlich ist dieser nicht repräsentativ für alle Wahlberechtigten. Denn die demoskopischen Abstinenten (die Nichterreichbaren und Interviewverweigerer etc.) haben die Chance Null in den repräsentativen Querschnitt zu gelangen und befragt zu werden. Damit bleibt mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten außen vor (in Brandenburg deutlich mehr). Ebenso haben die potentiellen demoskopischen Spielverderber (Wankelmütige, Unentschlossene, Nichtwähler) keine Möglichkeit, einer späteren Meinungsänderung Gehör zu verschaffen. Diese beiden Gruppen bilden eine große Mehrheit, deren Wahlabsichten mit Umfragen nicht erfasst werden können. Diese schweigende Mehrheit hat nicht den geringsten Grund sich an Wahlprognosen zu halten, die auf den Wahlabsichten jener Minderheit von Wahlberechtigten beruhen, die gespannt zu Hause auf den Anruf eines Meinungsforschungsinstitutes warten, um ihr politisches Herz einem anonymen Interviewer auszuschütteln. An der geäußerten Wahlabsicht halten sie wie an einem Gelübde fest. Sie lassen sich durch nichts davon abbringen, weder von besserer Einsicht noch einem Verkehrsunfall. Auch nicht von einem Herzinfarkt. Selbst der Tod kann sie nicht von ihrem Gelübde entbinden. Das ist das heile Weltbild der Demoskopie. Wenn wundert es bei dieser Sachlage, dass Prognosen manchmal völlig daneben liegen.