Heft 7, April 1987

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Aus der Bergischen Universität

Der Mathematiker und die Wahlforschung

Die Meinungsforschung nicht denunzieren

Replik auf Professor Ulmers Interview in Heft 5 vom 14.3.1987

Mit "pseudoexakten Zahlen" führten die Demoskopen, speziell die Wahlforscher, seit Jahren Politiker und Öffentlichkeit an der Nase herum – so die Kernaussage des Wuppertaler Mathematikers Professor Dr. Friedrich Ulmer im Interview mit den Bergischen Blättern vom 14. März. Der Wuppertaler Soziologe Professor Dr. Volker Ronge, bis zu seiner Berufung an die Bergische Universität Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest in München, antwortet seinem Kollegen.

Mit großer Geste schlägt Professor Ulmer in seiner Philippika gegen Wahlprognosen der Meinungsforschungsindustrie einen Sack, in dem freilich keiner steckt, weshalb auch keiner getroffen wird. Daß, auch nach einem Aufsatz in "Bild der Wissenschaft", keiner schreibt, liegt – wenngleich Ulmer vermutlich anders denkt – nicht etwa daran, daß die Meinungsforscher vor dieser herben Kritik aus der ehrwürdigen Wissenschaft der Mathematik beschämt und betreten schweigen, vielmehr daran, daß es für Wahlforscher Banalitäten in schlechter Mixtur sind, die der Mathematik-Professor verbreitet. So dumm und borniert, so manipulativ, wie Ulmer denkt, sind die Meinungsforscher nun doch nicht. Sie wissen durchaus um ihre – bzw. ihrer Aussagen – Grenzen und Risiken. Andererseits wollen und müssen sie sich von ihrer Arbeit ernähren – was ihnen sicherlich gewisse Rücksichten aufzwingt, nicht aber Manipulation und Irreführungen.

Mit dem Ziel der "Richtigstellung" eine Bemerkungen zu Ulmers Interviewaussagen in thesenhafter Kürze:
Das den durch Zufallsauswahl gewonnenen "repräsentativen Querschnitt" einer Grundgesamtheit (z.B. Bevölkerung) legitimierende "Gesetz der großen Zahl" leugnet Ulmer wenigstens nicht. Seine Charakterisierung der Stichprobenziehung als "Lotterie" dient freilich nur der – wohl beabsichtigten – Verunklarung und Entwertung eines durchaus seriösen Vorgangs. Abweichungen solcher Querschnitte bei unterschiedlichen (Zufalls-)Stichproben sind zwar erwartbar, aber eben in berechenbaren Grenzen und nicht "irgendwie".
Ulmer hätte sich, seiner wissenschaftlichen Kompetenz entsprechend, auf diese beiden Themen – das Gesetz der großen Zahl und die statistischen Fehlertoleranzen – beschränken sollen. Allerdings hätte er dann den Meinungsforschern wohl kaum Neues sagen können; in dieser Hinsicht sind sie nämlich schon "aufgeklärt".
Die Pseudo-Exaktheit von Prozentzahlen kritisiert Ulmer zu Recht – nur: solche Zahlen stammen in den seltensten Fällen von den Meinungsforschern. Diese wissen um den Richtigkeits- bzw. Fehler-"korridor" ihrer Zahlen. Und sie sagen dies in ihren Analyseberichten und Präsentationen auch ihren Auftraggebern. Die freilich publizieren nicht selten, aus unterschiedlichen Interessen, pseudo-exakte Zahlen. Aber das ist dann Politik, nicht Meinungsforschung.
Das Ganze stellt ein Problem der – in der Regel vertraglich exklusiven – Auftragsforschung dar, in der die Publikationsrechte meist beim Auftraggeber, nicht beim Institut liegen. Die Institute bemühen sich seit langem, einträchtig und immer wieder, hier ihren Einfluß zu vergrößern und damit ihr Erscheinungsbild zu verbessern – bislang vergebens.
Das Problem ist also nicht, daß die Institute mit pseudo-exakten Prognosen die Öffentlichkeit täuschen, sondern daß die Auftraggeber – oft gegen das Interesse und die Aufklärungsversuche der Institute! – auf solche Exaktheit "scharf" sind, weil sich (nur) damit Politik machen läßt.

Auftraggeber der Wahlforschung sind übrigens keineswegs nur oder in erster Linie die Medien. Die weit wichtigeren, von Parteien zu eigenen (Wahlkampf-)Zwecken in Auftrag gegebenen Umfragen werden in der Regel überhaupt nicht an die Öffentlichkeit gebracht. Herr Ulmer müßte sich doch denken können, daß sich die Parteien-Auftraggeber nicht mit pseudo-exakten Zahlen "an der Nase herumführen" lassen, sondern für ihre übrigens eher sechs- als fünfstelligen Summen seriöse Informationen – d.h. inklusive ihrer Sicherheitsgrade – abfordern.
Jeder seriöse Wahlforscher kapituliert vor der Forderung nach Prognosen, bei denen es auf Nachkommastellen-Genauigkeit ankommt: in den Wahlprognosen insbesondere bedeutsam bei der 5%-Klausel, die darüber entscheidet, ob eine Partei in ein Parlament einzieht oder nicht, was wiederum weitreichende Konsequenzen für die Sitzverteilung der anderen Parteien hat.

Ansonsten bieten Korridor-Prognosen (z.B. 44-47% für die CDU) mit relativ großem Sicherheitsgrad eine durchaus hilfreiche Information. Die Standardfallzahl, von der der Sicherheitsgrad (u.a.) abhängt, beträgt in der Wahlforschung übrigens nicht 1000, sondern 2000 Befragte. Und mit dem derzeitigen Übergang der Institute zu Telefonumfragen werden fünf und sogar sechsstellige Fallzahlen möglich.
Einen Wert haben solche Prognosen – und hierzu sagt Ulmer gar nichts – besonders im Zusammenhang mit Wiederholungsbefragungen, die einen Trend (des Korridors) ausweisen. Die eigentlich relevanten Informationen der Meinungsforschung sind die Trendaussagen.
Herr Ulmer sei versichert, daß die an richtigen Informationen wirklich interessierten – nämlich die Parteien -, im Unterschied zu den Medien mit ihren ganz andersartigen Interessen, regelmäßige Untersuchungen in kurzen Zeitabständen in Auftrag geben und ihre Schlüsse vor allem aus Zeitreihen ziehen. In solchen "Längsschnitten" relativieren sich die Probleme des repräsentativen Querschnitts erheblich.
Die Vorstellung, daß die Wahlforschung vor allem oder gar ausschließlich aus der "Sonntagsfrage" bestehe, kann nur ein Laie haben. Diese Frage wird in der Regel im Zusammenhang eines bis zu einstündigen Interviews erhoben. Und entsprechend "Kontextuell" erfolgt die Datenanalyse! Nur wird diese zumeist nicht publiziert, weil solches Wissen zu wertvoll ist.

Ulmer redet also über – den Instituten wie deren Auftraggebern – durchaus Bekanntes. Über seinen Aufklärungsimpetus übersieht er freilich die wirklich relevanten Probleme der Umfrage- und insbesondere Wahlforschung. Drei davon seien erwähnt:

  1. Die Auswahlverfahren folgen in der Praxis längst nicht mehr oder nur noch höchst selten dem Prinzip der Zufallsziehung aus einer Grundgesamtheitskartei, z.B. der Einwohnermeldeamtskartei. Diese Art der Stichprobenziehung ist viel zu teuer und langwierig; nur Ämter (wie die Wuppertaler Stadtverwaltung) können das noch leisten. Die tatsächlich verwendeten Verfahren (random Route, Quota usw.) enthalten durchaus große Probleme – aber ganz andere, als die von Ulmer propagierten. So kann sich etwa das Quota-Verfahren gar nicht auf das Gesetz der großen Zahl stützen.
  2. Die Ergebnisunsicherheit durch mangelhafte Ausschöpfung einer zufalls-gezogenen Stichprobe, insbesondere wegen Interviewverweigerungen, ist heutzutage weit relevanter als die statistische Fehlertoleranz.
  3. Die zur Korrektur der (u.a.) durch die Ausschöpfung hervorgerufenen "Verzerrungen" in der Wahlforschung üblichen sog. Gewichtungsverfahren sind höchst umstritten und meist nicht einmal bekannt. Von Ulmer werden sie und ihre Problematik nicht einmal erwähnt.

Es geht mir, abschließend, nicht etwa darum, die Meinungs- und speziell die Wahlforschung der Kritik zu entziehen. Ich selbst habe schon vor längerer Zeit in kritischer Absicht vorgeschlagen, eine deutlichere Differenzierung zwischen kommerzieller und akademischer Wahlforschung vorzunehmen (in: Das Interviewgeschäft, Verlag Hartmann + Petit, Wuppertal 1984). Aber Ulmers Rundumschlag aus einem Himmel, von dem her die Erde nur verschwommen erscheint, stößt ins Leere. Der Mathematiker sollte bei seinem Leisten, der Statistik, bleiben und die Umfrageforschung – die ja wohl nicht nur von Übel ist – mit seinen Mitteln aufklärend unterstützen, statt sie von oben herab, ungerecht und pauschal zu denunzieren.

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