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Das Unwissen der »Zahlungs«-Hungrigen ist das Brot der Meinungsforscher

Die Wahlforscher haben wieder Hochkonjunktur. Landtagswahlen, Bundestagswahl oder gar eine eilige Vaterlandswahl garantieren der Prognoseindustrie Rampenlicht und volle Kassen.
Doch was steckt hinter Prognosezahlen, wie werden sie gemacht? Der Mathematiker Prof. Dr. Fritz Ulmer von der Bergischen Universität Wuppertal antwortet darauf unverblümt:
"Wahlprognosen in der BRD sind reiner Schwindel. Nicht eine gemessene Volksmeinung wird da vermarktet, sondern ausschließlich die Spekulationen der Wahlforscher."

Für eine handelsübliche Umfrage - wie z.B. das Politbarometer im ZDF oder das WELT-Wahlbarometer von Frau Prof Noelle-Neumann – werden rund 1000 Wahlberechtigte befragt, ein sogenannter repräsentativer Querschnitt. Aus Kostengründen kann nämlich nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung befragt werden. Der repräsentative Querschnitt wird aber nicht, wie die geschickte Wortwahl suggeriert, nach soziologischen Merkmalen zusammengestellt, sondern per Lotterie. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen – je zufälliger, desto besser! Von einem Miniaturbild keine Rede, wohl aber von einem erfolgreich betriebenen Etikettenschwindel!
Die Auswahl per Zufall hat zur Folge, daß bei verschiedenen Auslosungen des "repräsentativen" Querschnittes immer etwas andere Umfrageergebnisse herauskommen. Die dadurch verursachten Abweichungen - die sogenannten "Lotterieschäden" – sind zwar kleiner als der erschreckte Laie sich vorstellt. Er glaubt ja zunächst, die Lotterieauswahl hätte zur Folge, daß Umfrageresultate und Lottozahlen dasselbe seien, was aber nicht der Fall ist. Doch die "Lotterieschäden" bei Umfrageergebnissen sind weit größer als die Propaganda der Prognoseindustrie seit Jahrzehnten behauptet. Von Lotterieschäden redet natürlich niemand – wenn überhaupt – dann spricht man gelehrt von "Vertrauensintervallen", und Wilhelm Buschs Begründung ‚Was beliebt, ist auch erlaubt‘ wird unterschlagen.

Dabei ist der Interviewfehler nicht berücksichtigt!

Bei der Berechnung der Lotterieschäden wird von den Wahlforschern blauäugig angenommen, die ausgelosten Wahlberechtigten würden wie in einer gut organisierten Volksdemokratie den ausgefüllten Stimmzettel für den Interviewer bereithalten, insbesondere auch jenes Drittel von Wahlberechtigten, die normalerweise dem Interviewer die Antwort verweigern oder von ihm nicht aufzuspüren sind. Aber selbst in diesem demoskopischen Schlaraffenland würden Wahlprognosen in wissenschaftlich vertretbarer Form, das heißt unter Angabe der Lotterieschäden nur Kopfschütteln auslösen. Denn wenn der Fragebogen nur die Sonntagsfrage enthielte und nur die vier bisher im Bundestag vertretenen Parteien zugelassen wären, beliefen sich die Lotterieschäden bei einer Meinungsumfrage für die großen Parteien CDU und SPD auf etwa 8%, für die kleinen (FDP und Grüne) auf etwa 5%. Wer ist schon an einer Prognose der Form

CDU 40%-48%, SPD 36%-44%, FDP 5%-10%, Grüne 4%-9%

interessiert und würde dafür zigtausend Mark hinblättern?

Geht es wirklich nicht besser? Die Antwort ist nein. Würden die Wahlforscher den Spielraum für die Lotterieschäden mit Gewalt halbieren und versuchen, Prognosen in der Form

CDU 42%-46%, SPD 38%-42%, FDP 6%-8%, Grüne 5%-7%

zu lancieren, dann sind diese aus mathematisch-statistischen Gründen mit einer Wahrscheinlichkeit von 55% (!) falsch. Mit Knobeln fährt man besser, da hat man wenigstens eine Chance von 50%.

Das Dilemma unserer Wahlforscher besteht also darin, daß Meinungsumfragen bei Berücksichtigung der unvermeidlichen Lotterieschäden - vom Interviewfehler ganz zu schweigen - nur Resultate zu liefern vermögen, die ohnehin schon jeder kennt. In dieser Notlage erfanden unsere Wahlforscher eine magische Formel, das statistische Ei des Columbus. Damit können lotteriegeschädigte und mit Interviewfehlern gesegnete Umfrageergebnisse wieder gesund gedoktert werden. Eine Umgewichtungsprozedur, deren alchimistischer Gehalt unverkennbar ist, ermöglicht es den "Vertrauensintervallen" die überschüssige Luft abzulassen, und alsdann schlüpfen "exakte" Zahlen aus der Retorte, bis hin zur Stelle nach dem Komma. Unsere Wahlforscher reden da feierlich von Gewichtungskunst. In Anbetracht der unkontrollierbaren Lotterieschäden und der unvermeidlichen Interviewfehler erfordert dieses Abenteuer jene unverkennbare Mischung von grenzenlosem Selbstvertrauen und unerschütterlicher Ahnungslosigkeit, die nun einmal zum Rüstzeug eines bekennenden Wahlforschers gehört.

Tragischerweise entpuppt sich das Ei des Columbus unserer Wahl-forscherin der Praxis als Kuckucksei. Die alchimistische Recall-Formel produziert nicht selten surrealistische Resultate, sodaß weitere Meinungsklima-Kuren vonnöten sind, bis etwas Vermarktbares entsteht. Ein Schönheitsfehler mag darin bestehen, daß Prognosen eigentlich ganz anders gemacht werden:

Man nehme das letzte Wahlresultat und passe es Pi mal Daumen der aktuellen Situation an.

Die eigentliche "Geschäftsgrundlage" liefert die vermeintliche politische Windrichtung, aktuelle Umfrageergebnisse spielen eine untergeordnete Rolle. Es ist klar, daß dieses Vabanquespiel solange funktioniert, wie sich die politische Landschaft nicht wesentlich ändert. Tritt etwas Neues oder Unerwartetes auf - wie z.B. die Republikaner anfangs 1989, oder gibt es keine "Erfahrungswerte" wie in der DDR im März 1990 - dann gehen unsere Wahlforscher erst einmal baden.
Das Ausmaß des Gesunddokterns der gemessenen Volksmeinung ist atemraubend. Frau Noelle-Neumann brüstet sich öffentlich damit, daß sie ihre Umfrageergebnisse um bis zu 11% zurechtdrückt, bevor sie sie vermarktet (Rheinischer Merkur Extra, 1987. Nr.37). Auch beim Politbarometer des ZDF werden bei Bedarf gigantische Einkommensumverteilungen im Prozentbereich vorgenommen. Beispielsweise wurde im März 1986 die SPD mit 9% zur Kasse gebeten und von 51% auf 42% zurechtgestutzt, während die CDU einen Bonus von 6% erhielt und von 38% auf 44% hochgepäppelt wurde. Entsprechend wurde die grünrote Mehrheit von 58% als Minderheit von 48% gehandelt, fast wie eine Aktie Ex-Dividende. Im November 1981 hingegen wurde der SPD eine Mutspritze von 37% auf 38% verabreicht, während man die CDU vom Odium der absoluten Mehrheit befreite, indem ihr Stimmenanteil auf 47% gedrückt und dafür die FDP von 4% auf 7% (über die 5%-Grenze) katapultiert wurde.
Was verbirgt sich hinter solch hirnrissiger Zahlenakrobatik?

Das Eingeständnis, daß die tatsächliche Volksmeinung, soweit es die nächste Bundestagswahl betrifft, mit einer Meinungsumfrage nicht gemessen werden kann!

Vermarktet werden lediglich die Spekulationen der Wahlforscher. Bei dieser Sachlage versteht es sich von selbst, daß Trendangaben keinen Bezug zur Realität haben, weil sie durch Lotterieschäden von zwei Meinungsumfragen bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Um es boshaft auszudrücken: Die "Gunst" des Zufalls beschert den Wahlforschern laufend Neuigkeiten und Schlagzeilen. Was sich wirklich abspielt, das weiß kein Mensch, und die von den Meinungsforschungs-instituten vermarkteten Daten über das zeitliche Auf und Ab der Parteistärken, zum Beispiel
CDU -3,7%, SPD +2,9%, FDP +1,4%, Grüne -0,4%
haben reinen Horoskop-Charakter.

Die statistischen Grundlagen von Wahlprognosen und Meinungsumfragen basieren u.a. auf dem "schwachen Gesetz der großen Zahl", vor allem aber auf dem unersättlichen Bedarf der zahlengläubigen Demoskopie-Endverbraucher. Hilfreich bei diesem Unterfangen ist ein falsches statistisches Modell. Da wird unverfroren angenommen, der ganze Fragebogen bestehe aus einer einzigen Frage, die mit ja oder nein zu beantworten ist. Dabei weiß jede Hausfrau, daß der ungebetene Interviewer ihr einen Fragebogen auf Endlos-Papier vorlegt und jede Frage einen Rattenschwanz von möglichen Antworten offen läßt Doch das statistische Weltbild bleibt davon unberührt, es vererbt sich von einer Generation von praktizierenden Demoskopen auf die nächste, wie ein Fluch bis ins dritte und vierte Geschlecht. Das richtige statistische Modell basiert nicht auf der Binomialverteilung, sondern auf Dutzenden von Multinomialverteilungen, die gleichzeitig betrachtet werden müssen, was praktisch nur mit einer Computersimulation möglich ist.

Die Berechnung von Lotterieschäden (alias Vertrauensintervallen) bei Umfragen mit Hilfe der handelsüblichen Methoden erinnert an jenen Metzger, der eine Wurst in ein Rudel von Hunden wirft und dann jedem Besitzer den Schmaus in Rechnung stellt. Gewiß kann kein Besitzer beweisen, daß es nicht sein Hund war, der die Wurst erwischte. Dennoch ist der Metzger kein Vorbild für Integrität. Solche "Vertrauensintervalle" haben die Funktion von statistischen Alibiübungen und Milchmädchenrechnungen.
Unter der Glut der Computersimulations-Sonne schmelzen ganze Berge von harten Daten wie Butter. Die Lotterieschäden bei Meinungs-umfragen sind nämlich gut doppelt so hoch wie bisher angenommen wurde, sie hängen nicht nur von der Anzahl der Interviews sondern auch von der Anzahl der Fragen und der möglichen Antworten ab.
Wenn der berühmte Psychologe Carl Gustav Jung - der Entdecker und Erforscher des kollektiven Unbewußten – noch lebte, würde er sich versucht sehen, zwei weitere Archetypen für die Psychoanalyse "gangbar" zu machen:

Zahlengläubigkeit und statistischer Übermut.

Die Alchimisten vergangener Zeiten würden ihre heutigen Kollegen beneiden. Was jenen während Jahrhunderten mangels geeigneter Stoffe und Know-how versagt blieb, ist für unsere Meinungsforscher zur Routine geworden:

aus Prozentzahlen und Aberglauben eine Goldgrube zu machen.

 


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"Zitterkür" frei nach Mannheimer Morgen

Kohl am Bundestagswahlabend 1987 im ZDF: ,,Ich habe mit 46% gerechnet."

 

Diagnose:

Die Mitglieder der Jury haben geschummelt. Sie haben ihre Umfrageergebnisse solange umgewichtet, bis die vorherrschende Meinung herauskam.(*)

___________

(*) Ein Spielraum von lediglich 1,5% - von 45,5% bis 47% wie in der Karikatur - kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Auf der Basis von 1000 Interviews müßten nämlich die Ergebnisse von sieben unabhängig arbeitenden Meinungsforschungsinstituten einen weit größeren Spielraum aufweisen (für die großen Parteien durchschnittlich etwa 5%).


Fritz Ulmer,
geboren 1938 in Zürich, ist seit 1973 Professor für Mathematik an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal. Er studierte Mathematik und Physik in Zürich und Heidelberg Nach der Promotion (1964) und der Habilitation (1967) auf einem Gebiete der reinen Mathematik erfolgten Berufungen an die Rutgers University, N.J , USA, 1967 und an die Universität Zürich 1969.

Ab 1977/78 wandte er sich der "brauchbaren" Mathematik zu (so Ulmer), die seiner Ansicht nach eher eine Geisteshaltung reflektiert als eine Eigenschaft der Mathematik: "Mein besonderes Interesse gilt der Anwendung von Statistik in der klinischen Chemie und der Medizin, wo der Drang zu pseudoexakten Zahlen besonders schöne Blüten treibt."

Auf dem Gebiet der Meinungsforschung erschien vor der Bundestagswahl 1987 in "bild der wissenschaft" sein aufsehenerregender Artikel "Der Orakelspruch mit dem repräsentativen Querschnitt". Dieser wurde mehrmals nachgedruckt, u. a. von der hessischen Landeszentrale für politische Bildung in der Reihe "Lesenswerte Beiträge aus Zeitschriften für politisch interessierte Bürger als Hilfe zur eigenen Urteilsbildung" (Heft 15.1987).

Auf Anfrage der Zeitschrift für Markt-, Meinungs- und Zukunftsforschung faßte er seine Kritik an Wahlprognosen und Meinungsumfragen in dem satirischen Aufsatz "Der Ablaßhandel mit Prozentzahlen" (Heft 30/31,1989) zusammen, welcher auch als Sonderdruck erschien. Seine pointierten Stellungnahmen waren Gegenstand von zahlreichen Vorträgen und Zeitungsartikeln sowie von Beiträgen in Rundfunk und Fernsehen.


Herausgegeben von
der Presse- und Informationsstelle
der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal
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Gestaltung: Sabine Fischer

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