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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 26, 30. Juni 2002, Seite 57

Wissenschaft

Immer wieder sonntags ...

... wird die Frage aller Fragen gestellt. Wer gewinnt die Wahl? Wer das Endspiel? Hängt das miteinander zusammen?

Von Jörg Albrecht und Wolfgang Blum

... (erstes Beispiel: Wetterprognosen)

... (zweites Beispiel: Vorhersage von Fußball-Ergebnissen, WM-Endspiel)

Beispiel Nummer drei: Politik. Im Grunde genommen beruht jede Prognose, die mehr als Kaffeesatzleserei sein will, auf Erfahrung. Fußballspieler greifen auf frühere Begegnungen zurück oder sehen sich Videoaufzeichnungen des Gegners an. Politiker agieren ähnlich. Vor allem aber setzen sie auf das Mittel der Umfrage. Die berühmteste, zur Zeit im Wochenrhythmus veranstaltet, ist die sogenannte Sonntagsfrage: Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären? Talkshowrunden und Stammtischgespräche werden mit der Interpretation der Ergebnisse bestritten. Wie aussagekräftig sind sie wirklich?

Fritz Ulmer, Professor für Statistik an der Universität Wuppertal, hat dazu eine klare Meinung: "Wahlprognosen sind der reine Schwindel", wirft er den Meinungsforschern vor; sie betrieben "Wählertäuschung in wissenschaftlicher Verpackung". Auf seiner Homepage (www.wahlprognosen-info.de) bemüht sich Ulmer gerade, den Zahlenzauber zu entlarven.

Wahlprognosen klingen exakt. In Wahrheit öffnen sie dem statistischen Zufall Tür und Tor.

Demoskopen stützen sich meist auf die Befragung von 1000 bis 2500 Wahlberechtigten, die zufällig ausgewählt und telefonisch befragt werden (eine Ausnahme bildet das Institut für Demoskopie in Allensbach, das seine Interviewer beauftragt, im Bekanntenkreis nach Leuten mit bestimmtem Geschlecht, Alter, Beruf und anderen soziodemographischen Kennzeichen zu suchen). Das Losverfahren öffnet dem Zufall tatsächlich Tür und Tor - theoretisch könnten bei der Befragung sogar 100 Prozent PDS-Stimmen herauskommen. Das ist zwar extrem unwahrscheinlich, aber vom Prinzip her nicht ausgeschlossen. Die Abweichungen, die sich in der Praxis ergeben, sind auch schon gravierend. Ulmers Computersimulation führt das eindrucksvoll vor Augen: Manchmal sind es drei oder vier Prozentpunkte, und zwar nach oben wie nach unten. Im Ergebnis führt das jede Wahlprognose ad absurdum.

Statistiker geben üblicherweise "Vertrauensintervalle" an, in denen sich die gesuchten Größen mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegen. Ulmer und seine Mitarbeiter haben solche Vertrauensintervalle für den Lotterieeffekt bestimmt, der durch die zufällige Auswahl der Befragten entsteht. Angenommen, 2000 ausgeloste Wahlberechtigte antworten nach Ehre und Gewissen. Die Auswertung ergibt: CDU/CSU 40, SPD 36, FDP 8,5, Grüne 6, PDS 5,5 Prozent. Dann ist (bei einer hypothetischen Wahlbeteiligung von 80 Prozent) den Wuppertaler Mathematikern zufolge die Wahrscheinlichkeit, daß die Zahlen für alle fünf Parteien richtig sind, äußerst gering. Bei den großen Parteien seien Abweichungen um plus/minus drei Prozent einzukalkulieren, bei den kleinen plus/minus 1,5 Prozent. Korrekt wäre daher zu prognostizieren: CDU/CSU 37 bis 43, SPD 33 bis 39, FDP 7 bis 10, Grüne 4,5 bis 7,5 und PDS 4 bis 7 Prozent. Bei einer üblicherweise angestrebten Aussagegenauigkeit von 95 Prozent sind die Abweichungen in bestimmten Fällen sogar noch größer.

Berücksichtigt man das Vertrauensintervall bei der Sonntagsfrage, ist also weder klar, ob Grüne und PDS überhaupt in den Bundestag kommen, noch steht fest, welche Koalition im Zweifel eine Mehrheit bekommt. Wer aber will das in der Zeitung lesen? Veröffentlicht werden stattdessen Zahlen, die, bis auf die Stelle hinter dem Komma, exakt klingen. "Wir leben in einem Zeitalter der Zahlengläubigkeit", kritisiert Ulmer, "das Unwissen der Zahlenhungrigen beschert den Datenfabrikanten ihren Lebensunterhalt."

Mit solchen Sprüchen macht sich der Wuppertaler unter Demoskopen nicht gerade beliebt. "Ulmer argumentiert so reißerisch wie die Bild-Zeitung", sagt Dieter Roth von der Forschungsgruppe Wahlen, die vor allem für das ZDF arbeitet. Ulmers Statistik allerdings ficht er nicht an. Um eine sichere Aussage zu treffen, ob Grüne oder PDS tatsächlich die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, müsse man mehr als 100000 Wähler befragen - ein derartiger Aufwand sei illusorisch. Fehlerintervalle, sagt Roth, würden zwar immer angegeben: "Aber keiner druckt sie." Forsa-Chef Manfred Güllner bestätigt: "Das Kleingedruckte, das wir immer mitliefern, wird nicht veröffentlicht." Genau das aber fordert eine Denkschrift führender Experten, die im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor drei Jahren verfaßt wurde.

Statistische Ausrutscher bei der Auswahl der Befragten sind das eine Problem. Das andere Problem sind die Befragten selbst. Manche verweigern die Antwort, andere lügen - besonders Anhänger rechtsextremer Parteien verbergen ihre politische Einstellung gern. Und viele wissen noch gar nicht, wen sie im September wählen wollen. Mehr als ein Drittel der Befragten, die eine Partei explizit nennen, gäben anschließend zu Protokoll, ihre Wahl könne sich durchaus noch ändern, erzählt Hilmer, dessen Firma Infratest ihre neuesten Zahlen jeden Freitag in der ARD vorstellt.

Anders als Politiker wissen Meinungsforscher selbst, daß ihre Umfragen auf wackeligen Füßen stehen. Deshalb polieren sie ihre Rohdaten auch meistens auf wie alte Möbel. Womit genau, ist im Einzelfall so geheim wie die Rezeptur von Coca-Cola. Manche, zum Beispiel Allensbach und Emnid, berücksichtigen die sogenannte Recall-Frage: Für wen haben sie bei der letzten Wahl gestimmt? Andere, wie die Forschungsgruppe Wahlen, lehnen das kategorisch ab. "Die meisten Menschen wollen früher schon so schlau gewesen sein wie heute und sagen deshalb, sie hätten vor vier Jahren die Partei gewählt, mit der sie heute sympathisieren", erklärt Vorstand Dieter Roth. "Methodisch ist es reiner Zufall, wenn man bei der Sonntagsfrage richtig liegt", faßt Torsten Schneider-Haase von Emnid zusammen. Aussagekräftiger seien Trendumfragen, die mögliche Stimmungsänderungen der Wähler erfassen.

Auch wenn man genausogut die Kristallkugel bemühen könnte: Auf Umfragen wollen weder Politiker noch Kommentatoren verzichten. Ob eine Partei wie die FDP in der Wählergunst nun bei vermeintlichen acht oder 18 Prozent liegt, bestimmt häufig genug deren Politik. Der Rückkopplungseffekt ist unübersehbar - und beeinflußt seinerseits wieder die Meinungsumfragen. Im Gegensatz zum Fußball ist man allerdings versucht, einen Mechanismus der "irrationalen Antizipation" zu vermuten. Nicht wenige Beobachter wollen zudem ausschließen, daß sogar das Runde mit dem Eckigen zu tun hat: Siegt Deutschland im Endspiel, steigen Schröders Wahlchancen als amtierender Kanzler - ganz einfach, weil das immer so war.

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