Der Dreh mit den Prozentzahlen

Das Unwissen der Zahlen-Hungrigen ist das Brot der Meinungsforscher

Leichtgläubigkeit wirft Professor Fritz Ulmer von der Universität Wuppertal allen Menschen vor, die vor einer Wahl auf die Resultate von Umfrage-Instituten starren. Mit seiner pointierten Kritik an der Meinungsforschungsindustrie hat er bereits viel Staub aufgewirbelt.

Einleitung und Zusammenfassung

Die Wahlforscher haben wieder Hochkonjunktur. Das Superwahljahr 1994 garantiert der Prognoseindustrie Rampenlicht und volle Kassen. Doch was steckt hinter Wahlprognosen, wie werden sie gemacht? Basieren sie wirklich auf den Ergebnissen von sogenannten Repräsentativumfragen, wie dies die Meinungsforscher einer zahlengläubigen Öffentlichkeit und einer demoskopiesüchtigen Geschäftswelt seit den Fünfzigerjahren vorgaukeln?

Logo Merkur extra

Elisabeth Noelle-Neumann:

"... Erstens: nach der Theorie der Schweigespirale gewichten wir unsere Umfrageergebnisse nach dem Meinungsklimadruck. Zwischen dem, was wir an Rohergebnissen erhalten, und dem, was wir als Prognose veröffentlichen, liegt manchmal eine Differenz von zehn oder elf Prozent. Denken Sie sich, wir würden die um zehn oder elf Prozent abweichenden Ergebnisse veröffentlichen! ..."
(Rheinischer Merkur/ Christ und Welt, Nr 37, 11.09.1987)

Die Antwort ist nein! Frau Noelle-Neumann, Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach und Nestorin der deutschen Meinungsforschung, brüstet sich öffentlich, daß sie ihre Restultate bis zu 11% zurecht (d)rückt, bevor sie die Öffentlichkeit damit beatmet (Rheinischer Merkur Extra, Nr. 37, 1987 , S. 30).
Das ist aber keine Extratour von ihr, vielmehr gehört es zum guten Ton in dieser Branche, daß hinsichtlich der Sonntagsfrage: "Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?", die gemessene Volksmeinung regelmäßig - aber nachweisbar - im Müll landet. Im ZDF-Politbarometer wurden beispielsweise im März 1986 die Umfrageergebnisse für die SPD von 51% auf 42% zurechtgestutzt, während die CDU von 38% auf 44% hochgepäppelt wurde. Entsprechend wurde die gemessene grünrote Mehrheit von 58% als Minderheit von 48% gehandelt, fast wie eine Aktie ex-Dividende. Im November 1986 hingegen - zwei Monate vor der Bundestagswahl - wurde der SPD eine Mutspritze von 37% auf 38% verabreicht, während man die Union vom Odium der absoluten Mehrheit befreite, indem ihr Stimmenanteil von 49% auf 47% gedrückt und gleichzeitig die FDP von 4% auf 7% katapultiert wurde, notabene: über die 5%-Hürde!
Was verbirgt sich hinter einer solchen Zahlenakrobatik? Das Eingeständnis, daß die tatsachliche Volksstimmzung betreffend der nächsten Bundestagswahl mit einer Meinungsumfrage nicht gemessen werden kann!
"Korrekturen" in diesem Ausmaß erwecken den Verdacht der Manipulation. Selbst ein gutmütiger Demoskopiekonsument dürfte sich die Frage stellen, weshalb die Wahlforscher überhaupt noch Umfragen durchführen, wenn sie hinterher derart hemdsärmelig mit den Restultaten umspringen. Weshalb der Aufwand?
Warum schreiben sie nicht einfach ein paar plausibel erscheinende Prozentzahlen hin? Die BRD ist politisch relativ stabil und historisch gesehen variierten die Parteistärken nur um wenige Prozente. Seit Ende der Sechzigerjahre liegen CDU und CSU stets zwischen 44% und 49%, die SPD (bzw. seit 1983 SPD und Grüne zusammen) zwischen 39% und 46% und die FDP zwischen 6% und 11%. Dazwischen gibt es nicht allzu viele Prozentzahlen, die für eine Wahlprognose in Frage kommen!
De facto sind Wahlprognosen in der BRD eine Fortschreibung früherer Wahlergebnisse. Der Grund hierfür ist einfach: Die Wahlforscher wissen aus Erfahrung, daß sie mit Umfrageergebnissen vor den Wahlen keine zuverlässigen Prognosen mächen können. Das liegt nicht nur am sogenannten Interviewfehler, der bei der Befragung entsteht, sondern auch daran, daß allein die mathematisch-statistisch bedingte Fehlerbreite einer Repräsentativumfrage für die großen Parteien 8% und für die kleinen 4% bis 5% beträgt. Kein Auftraggeber würde eine Prognose der Form:

CDU/CSU 37% - 45%
SPD 32% - 40%
FDP 4% - 8%
Grüne/Bündnis 90 6,5% -11,5%
PDS 2,5% - 5,5%
Republikaner 1% - 3%


akzeptieren und dafür bezahlen, auch das ZDF nicht, in dessen Auftrag das Politbarometer monatlich die Sonntagsfrage veranstaltet. Die Fehlerbreite wird der Scham geopfert, und auf dem Bildschirm erscheinen splitternackte Zahlen:

CDU/CSU 41%
SPD 36%
FDP 6%
Grüne/Bündnis 90 9%
PDS 4%
Republikaner 2%
(ZDF, August 1994)


Im Gegensatz dazu betragen die historischen Bandbreiten der Parteistärken von CDU/CSU, SPD/Grünen und FDP bei Bundestagswahlen lediglich sieben Prozent. In dieser mißlichen Situation haben die Wahlforscher aus der Not eine Tugend gemacht, und die sogenannte Abschreibe-"Meßmethode" eingeführt, d.h. es werden einfach die alten Wahlresultate fortgeschrieben und Pi mal Daumen ein klein wenig nach unten oder oben korrigiert, entlang der vermeintlichen politischen Windrichtung. Natürlich nennen unsere Politwetterfrösche das Kind nicht beim Namen. Für das Verschweigen der statistisch unvermeidlichen Fehlerbandbreiten und das Gesunddoktern der gemessenen Volksmeinung haben sie eigens ein neues Markenzeichen geschaffen: Sie nennen es salbungsvoll

"Gewichtungskunst".

Wahlprognosen reflektieren also primär die Spekulationen der Wahlforscher, und die veranstalteten Umfragen haben weitgehend Alibifunktion! Denn mit offen deklarierten Stammtischschätzungen könnten unsere Politwetterfrösche nicht zigtausend Mark kassieren. Und, was für sie weit schmerzlicher wäre, mit Biertischargumenten könnten sie der zahlenhungrigen Wirtschaft keinen Persilschein für die Genauigkeit von kommerziellen Meinungsumfragen unterjubeln, die bekanntlich den Löwenanteil am Umfragegeschäft ausmachen. So paradox es ist: Die Meinungsforschungsindustrie hat die politische Stabiltät in der BRD zum Gütesiegel für das kommerzielle Umfragegeschäft gemacht.
Frau Noelle-Neumann und ihre Ziehkinder sehen dies naturgemäß etwas anders. Sie glauben, die goldenen Prognose-Eier mit der frohen Botschaft "alles bleibt beim alten" würden von ihrer Meßkunst gelegt und nicht etwa von der politischen Stabilität. Solange alles beim alten bleibt, funktioniert ihre Meßkunstdevise "immer fromm der eigenen Nase nach" auch tadellos. Ihre Fähigkeit, damit Veränderung zu orten, hat sie eindrücklich am Wahlabend der Bundestagswahl 1990 im Fernsehen demonstriert, als sie den Grünen mit 8,5% den Einzug in den Bundestag prophezeite, während diese drei Stunden später jämmerlich an der 5%-Hürde eingingen. Vielleicht dank der "Schützenhilfe" der Wahlforscher im Vorfeld der Wahl, welche in corpore die Grünen sicher über der 5%-Hürde plakatierten - nach 8,3% bei der Wahl 1987- und es so den frustrierten Realos erleichterten, den Fundis der eigenen Partei einen Denkzettel zu verabreichen, indem sie für die SPD stimmten oder nicht zur Urne gingen.
Es ist klar, daß das Vabanquespiel mit dem Gesunddoktern der gemessenen Volksmeinung entlang den historischen Leitplanken nur solange funktioniert, wie die politische Landschaft nicht in Bewegung gerät.
Tritt etwas Neues oder unvorhergesehenes auf, wie z.B.

dann gehen unsere Politwetterfrösche erst einmal baden. Ungestraft und gut bezahlt! Das Risiko tragen die Dummen, die diesen wissenschaftlich verpackten Prognosezahlen Glauben schenken. Deutsche Demoskopen betreiben mit ihren Wahlprognosen eine Form der Zahlenprostitution, die in ihrer Reinheit einmalig auf dieser Welt ist.

weiter zu den zehn Geboten

Über diese Publikation
zum Archiv