I. VORWORT

Anlaß für den Artikel in "Bild der Wissenschaft" war die Bundestagswahl vom 25. Januar 1987. Während des Wahlkampfes ist die Öffentlichkeit einer Flut von "zuverlässigen" Angaben über die aktuelle politische Stimmungslage ausgesetzt. In dieser Situation entsteht bei vielen das Bedürfnis nach grundsätzlicher Information: Wie werden Meinungsumfragen und Wahlprognosen gemacht? In welchem Maße sind sie wissenschaftlich begründet?

Ziel des Artikels war es, auf begrenztem Raum allgemeinverständlich Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu geben und sie an konkreten Beispielen zu erläutern. Dabei waren Vereinfachungen und eine Stoffauswahl unumgänglich. Vieles von dem, was praktizierende Demoskopen und Wahlforscher zum eisernen Bestand zählen und was ihnen daher lieb und heilig ist, habe ich weggelassen, und dafür anderes, was ihnen unwesentlich erscheint, ins Zentrum gerückt, z.B. die Statistik. Diese Schwerpunktsetzung richtet sich danach, was meines Erachtens ein Demoskopie-Konsument wissen muß, um beim gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnis den spekulativen Charakter von Wahlprognosen zu erkennen. Ihre Aussagekraft betreffend der wahlpolitisch relevanten Fragen - wie z.B. 5%-Hürde und Mehrheitsbildung sowie zeitlicher Trend der Parteistärken usw. - wird in der Presse, in Fernsehen und Radio, von Politikern und von Meinungsforschungsinstituten maßlos übertrieben. Hinter den so lautstark und oft in "wissenschaftlicher" Verpackung feilgebotenen Zahlen verbirgt sich in Wirklichkeit nur ein Minimum an gesicherter Information.

Der "repräsentative Querschnitt", auf dem die Legendenbildung beruht, wird - wie jeder Demoskopie-Kundige weiß - im Idealfall per Zufall erstellt, in die Umgangssprache übersetzt heißt dies: per Lotterie! Nur unter dieser Voraussetzung kann mit Hilfe von Statistik von den wenigen Befragten auf die ganze Population geschlossen werden. Die dem "repräsentativen Querschnitt" entnommenen Daten haben daher zwangsläufig einen gewissen Grad an Lotteriecharakter. Das ist seit langem bekannt und vermag die Wahlforscher nicht mehr aufzuregen. Sie wähnen diese Fehlerquelle - die lotteriebedingten Abweichungen - unter Kontrolle und halten sie im Vergleich zu den anderen Fehlern für unbedeutend. Daß dem nicht so ist, können die Demoskopen diesem Artikel entnehmen.

Die Fakten, die ich hier vorbringe, sind nicht neu (1), ich habe sie lediglich aus der "Verdrängung" hervorgeholt und die seit langem praktizierten statistischen Alibiübungen und Milchmädchenrechnungen durch etwas realistischere Modelle und konkrete Berechnungen bzw. Simulationen ersetzt.

Wenn ein Demoskopiekonsument zum ersten Mal erfährt, daß der repräsentative Querschnitt im Prinzip per Lotterie erstellt wird, dann reagiert er bekanntlich höchst erstaunt: "Das ist doch Unsinn! Ein repräsentativer Querschnitt muß doch ein Spiegelbild der Bevölkerung oder zumindest ein Miniaturbild sein. Nur so kann der repräsentative Querschnitt die tatsächlichen Verhältnisse der ganzen Population widerspiegeln."

Der Demoskopiekonsument empfindet die Gleichsetzung von "repräsentativ" und "Lotterie" als Irreführung. Und es hat durchaus seinen Grund, wenn die Demoskopie und die Vertreiber ihrer Produkte in der Öffentlichkeit - die Medien, die Interessengruppen und die Politiker - grundsätzlich nur das Suggestivwort "repräsentativer Querschnitt" verwenden und den Hinweis auf den Zufall konsequent unterdrücken. Man stelle sich vor, der Werbeslogan vom "repräsentativen Querschnitt" würde durch das "Kartellamt gegen unlauteren Wettbewerb" aus dem Verkehr gezogen. Statt der irreführenden Floskel "Es wurden 1000 repräsentativ ausgewählte Personen befragt" ist generell die Ausdrucksweise "Es wurden 1000 Personen ausgelost und dann befragt" zu verwenden. Von nun an muß jedermann - von Helmut Kohl bis Jutta Ditfurth, von der FAZ über die Welt des Sterns und Spiegels bis hin zur Bilderzeitung, von der Handelskammer über den Kurverein bis Radio und Fernsehen, mit einem Wort: alles, was die Republik zusammenhält - seine demoskopischen Bedürfnisse mit Hilfe der Landeslotterie befriedigen. Ein erstes Beispiel:

Wegen eines Computerfehlers muß die Bundestagswahl annulliert werden. Da die Wiederholung mit riesigen Kosten verbunden wäre, werden die bewährten Methoden der modernen Demoskopie angewandt.

Die Nachwahl fand vom 2. bis 4. März 1987 unter dem Patronat der Landeslotterie statt. Teilnahmeberechtigt waren diejenigen Bürger, die am 25. Januar 1987 eine gültige Stimme abgegeben hatten. Von diesen wurden 1000 ausgelost und als repräsentativer Querschnitt deklariert. Die Auswertung der Stimmzettel ergab folgendes Resultat:

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

Rest

Nachwahl 2.3. bis 4.3.

40,3%

41,1%

8,6%

9,0%

1,0%

annullierte Wahl 25.1.1987

44,3%

37,0%

9,1%

8,3%

1,3%

Unterschied

-4,0%

+4,1%

-0,5%

+0,7%

-0,3%

Der repräsentative Querschnitt hat sein Machtwort gesprochen:

Die Koalition geht in die Opposition, das grünrote Bündnis wird Realität!


Das Machtwort des repräsentativen Querschnittes

Die Reaktion auf das Resultat der Nachwahl im meist betroffenen Blätterwald kann man sich leicht ausmalen:

DIE ü WELTverkündet den

Staatsstreich des repräsentativen Querschnittes

mit Entsetzen und ruft im Wirtschaftsteil und an den Finanzmärkten den Belagerungszustand aus. Aus Rücksicht auf DIE ü WELT - Untergangsstimmung plädiert sie für eine vierjährige Staatstrauer oder Neuwahlen.

Der Bild zeitung verschlägt es den Rest der Sprache - und was sie weit härter trifft - auch die Bilder. In einer Sonderausgabe verpulvert sie ihre letzten Buchstaben zu einem ganzseitigen

P U T S C H !

Als Schadenersatz für den unblutigen Verlauf wird der Sturm auf die Bastille in einer Photomontage abgedruckt.

Anders die Frankfurter Allgemeine (FAZ). Wie immer recherchieren ihre Leitartikler gründlich, und sie finden bald heraus, daß die Republik Anfang März vom Fasching heimgesucht worden war. In einem bewegten Leidartikel deckt der Fromme Friedrich auf, daß die Anhänger der Koalition auf Grund von empirisch/sozialen Unterschieden vermehrt unter den Anstrengungen vom Rosenmontag bis Aschermittwoch zu leiden hätten, was die Schweigespirale in Gang versetzt habe und diesen sonst nicht gerechtfertigten Vertrauensschwund auslöste. Er wirft die Frage auf, ob die bisherige Theorie der Gewichtung des repräsentativen Querschnittes solche soziologischen Traumata ausreichend berücksichtigt habe.


Die bisher gutgläubigen Konsumenten von Repräsentativumfragen werden wenig Verständnis für diese Erklärungen und Bemühungen zeigen. Sie kommen sich verschaukelt vor und behaupten mit Fug und Recht, daß vom Rosenmontag bis Aschermittwoch zwar allerlei Allotria, aber keine repräsentative Nachwahl möglich sei und daß das "Resultat" nur das beweise, was man von einer Lotterie zu erwarten habe. Es sei doch seit den Wahlen nichts vorgefallen, was diesen politischen Erdrutsch erklären könne.

Ich kann dem aufgebrachten Demoskopie-Konsumenten an dieser Stelle nur versichern, daß die Nachwahl fair, korrekt und unter Einhaltung aller Kunstregeln der Demoskopie und der Statistik stattgefunden hat und daß es an dem Resultat nichts zu zweifeln und zu rütteln gibt. Die Nachwahl erfolgte so repräsentativ, wie ein Meinungsforscher nur träumen kann, sozusagen im demoskopischen Schlaraffenland : keine Verweigerer, keine Nicht-Angetroffenen, keine "Weiß nicht", keine Noch-nicht-Entschiedenen, sondern 100%-ige und wahrheitsgetreue Angaben - kurz: Photokopien der 1000 gültigen Stimmzettel, wie sie die Auszähler in der Wahlurne vorfanden. Den Nachweis dafür, daß die Nachwahl repräsentativ war, sowie eine ausführliche Diskussion über den frommen, aber faulen Spruch vom repräsentativen Querschnitt findet der Leser in Abschnitt III.

Die Retter der Republik: die Gewichtungskünstler

Im Gegensatz zu den Prognose-Endverbrauchern wird der Meinungsforscher die garantierte Zufallsauswahl der Landeslotterie und die 100%-ige Rücklaufquote erleichtert zur Kenntnis nehmen - hat man doch im demoskopischen Alltag mit dem Zufall und den Ausfällen so seine liebe Not.

Das Resultat der Nachwahl bereitet dem Wahlforscher wenig Kopfschmerzen. Er weiß seit langem, daß der "repräsentative Querschnitt" nicht repräsentativ ist, solange er ihn nicht zurechtgebogen hat. Im Fachjargon heißt dies Kunst der Gewichtung, wobei - wie es bei bildenden Künsten üblich ist - jeder das Gewerbe auf seine Art und für seine Zwecke betreibt. Einen ersten Eindruck darüber vermittelt Frau Noelle-Neumann im Rheinischen Merkur Nr.37/1987:

"... nach der Theorie der Schweigespirale gewichten wir unsere Umfrageergebnisse um nach Meinungsklimadruck. Zwischen dem, was wir an Rohergebnissen erhalten, und dem, was wir als Prognose veröffentlichen, liegt manchmal eine Differenz von zehn oder elf Prozent. Denken Sie sich, wir würden die um zehn oder elf Prozent abweichenden Ergebnisse veröffentlichen!"

Veränderungen in diesem Ausmaß sind selbst für die Altmeisterin der Zunft immer wieder ein Ritt über den Bodensee:

"Ich bin jedesmal mit großer Sorge erfüllt."

bekennt Frau Noelle-Neumann gegenüber der Wirtschaftswoche (Nr.1/2 1987). Es versteht sich von selbst, daß bei einer Umverteilung von 10% bis 11% genügend Freiraum bleibt, die "Theorie" der Schweigespirale mit einem geeigneten Faschingsbonus auszuschmücken.

Zur politischen Gewichtung äußert sich die Wirtschaftswoche Nr.1/2 vom 2. Januar 1987 (Seite 28) ergänzend:

"Politische Gewichtung nennt sich der dramatische Höhepunkt der demoskopischen Zirkuskunst, Recall-Verfahren die magische Formel. Hauptgrundlage ist die neben der Sonntagsfrage gestellte Frage, hinter welche Partei der Interviewte bei der letzten Wahl sein Kreuzchen gemacht habe. Die so ermittelten Prozentwerte werden dann mit dem damaligen amtlichen Wahlergebnis verglichen.

Übliches Resultat - die Erinnerung stimmt nicht mit der Realität überein. In demselben Maße, wie die Erinnerung - der Recall - vom damaligen Wahlergebnis abweicht, werden die Angaben über die derzeitige Parteipräferenz umgerechnet. Behaupten etwa zu viele Befragte, sie hätten beim letztenmal sozialdemokratisch gewählt, so wird das aktuelle Umfrageergebnis für die SPD entsprechend heruntergewichtet. Liegt der Erinnerungswert für die FDP zu niedrig, werden die Liberalen entsprechend hochgewichtet: Deren aktueller Recall-Zuschlag liegt bei rund 100 Prozent."

Das Resultat der Nachwahl bestätigt dem Wahlforscher also lediglich seine "Erfahrung", daß bei Umfragen oft mehr Leute sagen, sie würden für die SPD und die Grünen stimmen, als es dann bei der Wahl tatsächlich der Fall ist. Das einzige, was ihn an der Nachwahl wirklich stört, ist der unerwartet hohe Anteil von 8,6% FDP-Stimmen. War der Verlust von 0,5% gegenüber der "annullierten" Bundestagswahl zu klein? Nein, aber bei der FDP betrug die branchenübliche Profitmarge bis vor der Bundestagswahl rund 100% - d.h. man verdoppelte in etwa das Umfrageergebnis - was jetzt bei der Nachwahl nicht mehr so einfach geht, weil das Sparpotential bei den Grünen nicht genügend groß ist.

Als Wahlforscher beginnt man bei der Umgewichtung mit der wendigen FDP, denn wer diesen Faktor unter Kontrolle wähnt, hat fürs erste freie Fahrt in den Glauben, die politische Situation der Republik fest im Griff zu haben:

zweimal 8,6% gibt 17,2%

Das schluckt keiner mehr. 1983 erhielt die FDP bei den Bundestagswahlen 7,0% und 1987 bei der "annullierten" Wahl 9,1%. Unter Berücksichtigung des Aufwärtstrends und der Tatsache, daß auch die FDP-Basis in letzter Zeit bei Umfragen vermehrt Farbe bekennt, läßt sich der wahre Anteil wie folgt mit 12% ermitteln:

Resultat der Repräsentativumfrage
8,6%
plus 50% historischer Mindestzuschlag für die Erfassung der klammheimlichen FDP-Wählerschaft
+4,3%
minus 10% für größere Bekenntnisfreudigkeit
-0,9%
ergibt ein umgewichtetes Total für die FDP von
12,0%

Somit verbleiben 87% zur Verteilung für CDU/CSU, SPD und die Grünen (100% minus FDP minus einem Rest von 1%).

Nun zur Union: Man weiß - und viele teilen diese Ansicht -, daß es abwärts mit ihr geht. 1983 erhielt sie bei der Wende-Wahl 48,8%, aber 1985 und Anfang 1986 mußte man ihr bei den Umfragen oft kräftig unter die Arme greifen, um sie auf 45% hochzupumpen. Ihr historisches Tief bei der Bundestagswahl 1980 von 44,5% wird sie diesmal unterschreiten. Für die Mehrheit zusammen mit der FDP reichen 51% oder im schlimmsten Fall auch 50% oder sogar 49,5% (wenn man den Rest mit 1,1% ansetzt), folglich muß die Union 37,5% bis 39% auf die Beine bringen. Aber ein solches Resultat kann man gegenwärtig nicht veröffentlichen, denn unter Berücksichtigung historischer Perspektiven liegt die derzeitige untere Toleranzgrenze bei etwa 43%. Das würde eine rechnerische Mehrheit der Koalition von 55% ergeben. Kann man damit im heutigen politischen Umfeld auf den Markt gehen? Nein! Was soll man tun? Also 42% !...?

zum ersten ...

zum zweiten ...

und zum .......

Aber halt - in diesen schweren Zeiten und bei diesem harten Konkurrenzkampf will man sich als Geschäftsführer - Diplomkaufmann und Hobby-Psychosoziologe mit Volksschulabschluß in Statistik - möglichst wenig exponieren, denn mit einer zu auffälligen Fehlprognose könnte man leicht in den Ruch kommen, auch im lukrativen kommerziellen Alltagsgeschäft unzuverlässige Umfrageergebnisse zu liefern. So wird der Union schließlich bei 41% der Zuschlag erteilt. Aus Rücksicht auf das Koalitionsklima und die reichlich hohe Mehrheit von 53% wird zu guter Letzt der FDP-Anteil auf 11% reduziert, indem man entweder den oben auf 50% angesetzten Zuschlag für die Klammheimlichen auf 40% reduziert oder den Abzug für die Bekenntnisfreudigkeit von 10% auf 20% verdoppelt.

Damit verbleiben 47% für die SPD und die Grünen. Die Auslotung darüber könnte man entweder den nächsten grünroten Parteitagen überlassen oder jetzt eine paritätische Aufteilung im Verhältnis 41 zu 9 vornehmen, welches sich bei der repräsentativen Nachwahl ergeben hat. Das würde 38,5% und 8,5% ergeben, aber weil erfahrungsgemäß in der Wahlkabine ein gewisser Anteil der Grünen trotz ihrer Neuen Heimat für die einstige politische Herkunft stimmt, wäre eine Aufteilung von 39% zu 8% oder gar 40% zu 7% realistischer. Aber die SPD bei 40%? Im Leben nie! Also bleibt nur die Möglichkeit von 39,5% zu 7,5%. Das amtlich-gewichtete Nachwahlresultat der Landeslotterie vom Rosenmontag bis Aschermittwoch lautet somit

CDU/CSU

SPD

FDP

GRÜNE

REST

41,0%

39,5%

11,0%

7,5%

1,0%

Wie der Demoskopie-Kundige sieht, haben wir nicht von dem ganzen Instrumentarium der Wahlforscher - Projektion, Recall, Feinjustierung und all dem Meinungsklimaschmu - Gebrauch gemacht, um die Republik wieder instand zu setzen. Normalerweise führen unsere Gewichtungskünstler einige weitere Additionen und Subtraktionen mit Prozentzahlen durch - die alle etwa von derselben Güte sind -, bis der repräsentative Querschnitt endlich "repräsentativ" ist. Diese arithmetischen Verschiebungen werden aber nicht offen in der Buchhaltung als kurzfristige Verbindlichkeiten deklariert, sondern heimlich in der Bilanz aktiviert, als handle es sich um stille Reserven. Die Details der Gewichtungs-Arithmetik werden aus Sicherheitsgründen in einem wehrlosen Computerprogramm versteckt - nicht, weil sie jemand stehlen könnte - sondern weil es peinlich wäre, wenn sie ans Tageslicht kämen.

Die Wahlforscher sehen ihre Gewichtungskunst in nicht ganz so schwarzen Farben. So erklärte der Geschäftsführer von Basis-Research in der Wirtschaftswoche Nr.1/2 1987 optimistisch: "Eine fundierte theoretische, wissenschaftliche Grundlage dafür gibt es nicht. Das läuft rein pragmatisch ab." Solange eine reißende Nachfrage nach und der Glaube an Prozentzahlen und Prognosen besteht, werden uns diese

Pragmatiker, die mit beiden Füßen fest in der Luft stehen,

wohl-erhalten bleiben.

Nach diesem Exkurs in die demoskopische Zirkuskunst wollen wir das Geheimnis um die Nachwahl lüften, welche so tiefe Spuren in der Republik hinterlassen hat. Zu diesem Zweck führen wir erneut eine Wiederholung der "annullierten" Bundestagswahl durch und lassen durch die Landeslotterie nochmals einen repräsentativen Querschnitt von 1000 Wahlberechtigten auslosen und ihre Stimmzettel auswerten. Weil das Resultat

CDU/CSU

SPD

FDP

GRÜNE

REST

41,1%

38,4%

8,7%

7,7%

1,1%

diesmal etwas anders aussieht, möchten uns die Gewichtungskünstler jetzt eine andere Geschichte erzählen. Aber geändert hat sich nichts! Wir haben nämlich - wie bei der ersten Nachwahl - den repräsentativen Querschnitt unter denjenigen Wahlberechtigten ausgelost, die am 25. Januar 1987 einen gültigen Stimmzettel in die Urne legten und die damals abgegebenen Stimmzettel ausgewertet. Die Wahlberechtigten der beiden repräsentativen Querschnitte für die Nachwahl und für ihre Wiederholung hatten somit gar keine Möglichkeit, ihre Meinung zu ändern. Nur die Launen des Zufalls und der "Meinungsklimadruck" - die bei unseren Gewichtungskünstlern einen steten Leidensdruck bewirken - haben sich geändert! Aus diesem Grund haben wir die Gewichtungskünstler diesmal auf Kurzarbeit gesetzt und sie nur zum Stimmenzählen eingesetzt. Als verständig denkende Arbeitgeber haben wir sie beim Arbeitsamt zur Umschulung angemeldet. Wenn sie eine Computersprache erlernt haben - Basic genügt - dann werden sie auf dem Homecomputer ihrer Kinder - sei es ein Commodore C 64 oder ein Schneider CPC 464 - die Auslosung des repräsentativen Querschnittes mit Hilfe des eingebauten Zufallszahlengenerators selbst vornehmen können. Auf diese Weise werden sie in kürzester Zeit von ihren Zwangsvorstellungen betreffend Recallverfahren und Messung des "Meinungsklimadrucks" geheilt werden.

Um den Leser mit den Launen des Zufalls vertrauter zu machen, haben wir auf dem Computer die Auslosung von einer Million "repräsentativer" Querschnitte mit 1000 Befragten für die Bundestagswahl 1987 durchgeführt. Dieses Vorgehen bietet gegenüber den gängigen Methoden der Umfrageforschung einige Vorteile. Es kostet fast nichts, die Resultate liegen innerhalb einiger Stunden vor und jedermann merkt bald, welche Aussagefähigkeit "der" repräsentative Querschnitt besitzt. Im folgenden sind die Resultate der ersten zehn Auslosungen des repräsentativen Querschnittes abgedruckt: Das amtliche Wahlergebnis lautete bekanntlich: CDU/CSU 44,3%, SPD 37,0%, FDP 9,1%, Grüne 8,3% und Rest 1,3%.

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

Rest

1. Auslosung

40,3%

41,1%

8,6%

9,0%

1,0%

2. Auslosung

44,1%

38,4%

8,7%

7,7%

1,1%

3. Auslosung

43,9%

38,5%

8,8%

8,2%

0,6%

4. Auslosung

47,1%

35,6%

7,8%

8,3%

1,2%

5. Auslosung

43,1%

37,4%

9,5%

8,8%

1,2%

6. Auslosung

47,0%

36,3%

8,4%

6,9%

1,4%

7. Auslosung

44,5%

34,3%

10,3%

9,4%

1,5%

8. Auslosung

43,5%

38,9%

8,4%

7,7%

1,5%

9. Auslosung

42,0%

37,9%

10,8%

8,1%

1,2%

10. Auslosung

43,7%

38,9%

8,7%

6,9%

1,8%

Diese 10 Auslosungen können wir uns als die Resultate von 10 unter idealen Bedingungen arbeitenden Meinungsforschungsinstituten vorstellen, denn diese Ergebnisse sind dadurch zustande gekommen, daß 10 mal 1000 Bürger unter denjenigen Wahlberechtigten ausgelost worden sind, die bei der Bundestagswahl eine gültige Stimme abgegeben haben. Es wurden die damals abgegebenen Stimmen ausgewertet. Wir ordnen daher jede Auslosung einem Meinungsforschungsinstitut zu, z.B. ist die 5. Auslosung das Resultat des 5. Institutes. Wie man sieht, reichen diese 10 Meinungsforschungsinstitute und ihre Resultate bereits aus, um jedermann glücklich zu machen. Die Union fühlt sich beim Institut Nr. 4 in guten Händen, denn es garantiert ihr 47,1% und hält gleichzeitig die FDP mit 7,8% in Schach. Die SPD wird vom Institut Nr. 1 mit dem Traumresultat von 41,1% beglückt und kann zusammen mit den Grünen (9,0%) versuchen, das grünrote Chaos in eine Regierungsmehrheit umzufunktionieren. Die Grünen, jedenfalls die Realos, halten sich ebenfalls an Institut Nr. 1, während die Fundis mit Institut Nr. 7 besser fahren, dort wird ihnen nicht nur 9,4% verbrieft, sondern es wird ihnen auch weis gemacht, daß die SPD mit 34,3% in den letzten Zügen liegt. Die FDP schließlich beruft sich auf Institut Nr. 9, nach welchem Strauß & Kohl mit 42,0% reif für Botschafterposten in Monaco und Liechtenstein sind, während Genscher mit 10,8% zum Quasi-Bundeskanzler und zur Integrationsfigur für den Rest der Union wird.

Man beachte, daß die 10 Institute weder gepfuscht noch geschummelt haben. Im Gegenteil, ihre Resultate - nämlich die 10 obigen Auslosungen - sind unter idealen Bedingungen zustande gekommen, es wurden alle Kunstregeln der Demoskopie und Statistik eingehalten. Die Unterschiede beruhen also nicht auf schlechter Arbeit oder gar Günstlingswirtschaft. Vielmehr lassen sie sich grundsätzlich nicht vermeiden, sie sind durch die Methoden der Demoskopie bedingt, nämlich durch die Auslosung des repräsentativen Querschnittes. Die folgende Karikatur (Spiegel Nr.8/1983) im Vorfeld der Bundestagswahl 1983, bei welcher es um das Überleben der FDP ging, macht klar, wie sehr der Leistungsanspruch an die Demoskopie und ihre tatsächlichen Möglichkeiten auseinanderklaffen.


Zitter-Kür
(Mannheimer Morgen)

Die Karikatur und der Kommentar dazu gehen am Kern des Problems vorbei. Sie suggerieren, die unterschiedlichen Resultate seien auf subjektive Einflüsse bzw. ungenaues, nichtobjektives Messen zurückzuführen. In Wirklichkeit besteht der Kern des Problems in der unüberbrückbaren Kluft zwischen überzogenen Erwartungen einerseits und den realen Möglichkeiten der Demoskopie andererseits. Den Wunschvorstellungen der zahlengläubigen Prognosen-Endverbraucher stehen Meßmethoden der Demoskopie gegenüber, deren Genauigkeit und Zuverlässigkeit an Werkzeuge aus der Steinzeit erinnern. So wird die Nachfrage nach aussagekräftigen Daten von den Meinungsforschungsinstituten mit Pseudoinformation in Form von Prozentzahlen - nicht selten mit einer Nachkommastelle (wie z.B. bei der 5%-Hürde) - befriedigt. Die zur Debatte stehenden politischen Fragen können damit häufig nicht beantwortet werden, weil bereits die auslosungsbedingten Abweichungen zu groß sind. Hinzu kommen die Fehler, die bei der Befragung entstehen. Über das Ausmaß von beiden wird Stillschweigen gewahrt. Stattdessen wird durch die Verwendung des Suggestivwortes "repräsentativer Querschnitt" beim ahnungslosen Demoskopiekonsumenten der Eindruck von Genauigkeit und Zuverlässigkeit erweckt.

Ein wesentliches Problem besteht also in der Weitergabe bzw. Überlassung von Prozentzahlen, mit denen der (politisch oder medienpolitisch motivierte) Auftraggeber anstellen kann, was er will. Wenn er von einem Dutzend Institute Resultate erhält, dann kann er sich aus dem Datenmaterial die ihm zweckdienlichen Zahlen auswählen und für seine Zwecke in der Öffentlichkeit einsetzen. Er braucht also nicht einmal Zahlen zu fälschen oder Suggestivfragen in Auftrag zu geben, um Meinungsumfragen zu manipulieren.

Auf Grund der Auslosung des repräsentativen Querschnitts sind die ermittelten Prozentzahlen zwangsläufig mit Fehlern behaftet, und die Chance, daß diese Fehler vernachlässigbar sind, ist - wie bereits die obigen zehn Auslosungen illustrieren - praktisch Null! Mit anderen Worten: Die von den Meinungsforschungsinstituten im "repräsentativen Querschnitt" ermittelten Parteistärken treffen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu. Dies liegt nicht daran, daß die Institute ungenau und unzuverlässig arbeiten, sondern vielmehr lassen die Meßmethoden der Demoskopie grundsätzlich nur approximative Aussagen zu. Mit einer handelsüblichen Meinungsumfrage kann man nur Prozentbereiche für die Parteistärken angeben - z.B. CDU/CSU 42% bis 50%, SPD 33% bis 41%, FDP 6% bis 11%, Grüne 5% bis 10% (bei 1000 Interviews und der Standardsicherheit von 95%) - aber keine Prozentzahlen (wie z.B. CDU/CSU 46%, SPD 35%, FDP 8%, Grüne 10%), von einer Nachkommastelle ganz zu schweigen.

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