VII Die Vier-Parteien-Frage

In den Abschnitten IV und V wurde jeweils ein einfaches Problem betrachtet - in IV die 5%-Hürde und in V die Mehrheitsfrage. Diese lassen sich statistisch mit der Binomialverteilung behandeln. Allerdings setzt dies voraus, daß der repräsentative Querschnitt lediglich dazu verwendet wird, nur die gerade gestellte Frage zu beantworten, aber keine anderen. Insbesondere kann für die Beantwortung der Mehrheitsfrage nicht der gleiche repräsentative Querschnitt verwendet werden wie für die Beantwortung der Frage, ob die FDP die 5%-Hürde überwinden kann. Das Modell der Binomialverteilung läßt dies nicht zu. Will man beide Fragen mit Hilfe des gleichen repräsentativen Querschnitts beantworten, dann muß man das Modell der Trinomialverteilung verwenden, wie dies in Abschnitt VI gemacht wurde - was dazu führt, daß bei gleicher Chance die auslosungsbedingten Spielräume größer werden. Bei der Trinomialverteilung werden die SPD und die Grünen in einen Topf geworfen, was als statistische Vereinfachung legitim sein mag, aber demoskopisch unhaltbar ist, da von einem Wahlforscher erwartet wird, daß er in der Lage ist, getrennte Angaben über alle vier Parteien zu machen.

In der Praxis holt er weit mehr Informationen aus einem repräsentativen Querschnitt heraus, als nur über die vier Parteistärken. Würde er sich darauf beschränken, oder gar zwei verschiedene repräsentative Querschnitte für die Mehrheitsfrage und die 5%-Hürde verwenden, dann wäre er längst bankrott. (Man vergleiche die Box in Abschnitt III, Seite 20.)

Um die folgenden Ausführungen zu veranschaulichen, sind auf der übernächsten Seite die Resultate von 100 "Wiederholungen der Bundestagswahl" aufgeführt. D.h. es wurde hundertmal ein Querschnitt vom Umfang 1000 ausgelost - und zwar unter denjenigen Wahlberechtigten, die bei der Wahl im Januar 1987 eine gültige Stimme abgaben - und die damaligen Stimmzettel ausgewertet. Man soll sich diese Resultate als die Ergebnisse von 100 verschiedenen Instituten vorstellen. Dadurch erhält man einen Eindruck davon, zu welchen Eskapaden "der" repräsentative Querschnitt fähig ist.

Ein Blick auf die obige Tabelle zeigt, daß die "meisten" der 100 idealen repräsentativen Querschnitte das tatsächliche Resultat für eine Partei relativ gut, aber gleichzeitig für eine andere ziemlich schlecht approximieren. Wie man sieht, sind die guten und schlechten Schätzungen ziemlich gleichmäßig über alle vier Parteien verteilt. Folglich kommt man damit nicht weiter. Die Statistik kann nun Aussagen darüber machen, wie groß die Chance ist, daß die durch die Auslosung des repräsentativen Querschnittes verursachten Abweichungen für eine, zwei ... oder alle Parteien in einem vom Meinungsforscher frei wählbaren Spielraum liegen. Diese Chance kann in einfachen Fällen explizit berechnet werden. Meist ist dies jedoch nicht möglich und sie muß durch Simulation (d.h. Probieren) ermittelt werden. Man führt hierzu eine große Anzahl von Auslosungen durch und prüft bei jeder nach, ob die Abweichungen innerhalb des vorgegebenen Spielraums liegen. Der prozentuale Anteil der Auslosungen, bei dem dies der Fall ist, stellt dann die Chance dar.

Bei dem gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnis ist ein repräsentativer Querschnitt offensichtlich nur dann aussagekräftig, wenn er gleichzeitig für alle vier Parteien hinreichend genaue und zuverlässige Resultate liefert.

Wählt der Demoskop einen Spielraum von 1% für die beiden großen und 0,5% für die beiden kleinen Parteien, so hat dies zur Folge, daß er die Resultate des ersten und zweiten repräsentativen Querschnittes in der Form

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

1.Wdh.

39,8% - 40,8%

40,6% - 41,6%

8,4% - 8,9%

8,8% - 9,3%

2.Wdh.

43,6% - 44,6%

37,9% - 38,9%

8,5% - 9,0%

7,5% - 8,0%

bekanntgeben müßte, und natürlich ebenso die weiteren. (Auf die Wahl eines Spielraums bei den Splitterparteien kann aus den vorhin erwähnten Gründen verzichtet werden.) Führt er diese Prozedur mit den Resultaten aller 100 repräsentativen Querschnitte durch, so merkt er bald, daß er mit diesem Spielraum der Wahrheit nicht näher kommt. Eine Überprüfung zeigt, daß lediglich zwei der 100 repräsentativen Querschnitte, nämlich Nr. 21 und Nr. 76 :

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

21.Wdh.

43,9% - 44,9%

36,2% - 37,2%

8,8% - 9,3%

8,3% - 8,8%

76.Wdh.

44,3% - 45,3%

36,3% - 37,3%

9,1% - 9,6%

8,0% - 8,5%

die Eigenschaft haben, daß sich das tatsächliche Wahlergebnis

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

 

44,3%

37,0%

9,1%

8,3%

für alle vier Parteien innerhalb der gewählten Spielräume befindet und daß das Umfrageergebnis in der präsentierten Form somit zutreffend ist. Man kann mit 100 ausgelosten repräsentativen Querschnitten das Problem natürlich nur illustrieren, aber nicht daraus schließen, daß die Chance zwei Prozent beträgt. Anders verhält sich dies bei einer Million Auslosungen, bei welchen sich eine Chance von etwas mehr als 1,2% ergibt. Dieser Wert stimmt gut mit dem Resultat (=1,25%) einer theoretischen Berechnung mit der Multinomialverteilung überein. Somit ergibt sich: Im Durchschnitt liegen nur bei einem von 80 repräsentativen Querschnitten die wahren Werte für alle vier Parteien innerhalb der obigen Spielräume. Gibt der Demoskop das Resultat mit diesen Toleranzgrenzen an, dann müßte er seinem Auftraggeber mitteilen, daß das Umfrageergebnis - allein wegen der Auslosung des repräsentativen Querschnittes - mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 99% falsch ist, wobei der Interviewfehler nicht berücksichtigt ist.

Wählt der Demoskop bei den großen Parteien einen Spielraum von 2% und bei den kleinen einen solchen von 1%, dann hat er die Resultate des ersten und zweiten repräsentativen Querschnittes in der Form

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

1.Wdh.

39,3% - 41,3%

40,1% - 42,1%

8,1% - 9,1%

8,5% - 9,5%

2.Wdh.

43,1% - 45,1%

37,4% - 39,4%

8,2% - 9,2%

7,2% - 8,2%

anzugeben und entsprechend die weiteren. Eine Überprüfung der obigen Tabelle zeigt, daß trotz dieses nicht gerade bescheidenen Spielraums lediglich 14 der 100 repräsentativen Querschnitte die Eigenschaft besitzen, daß das Wahlergebnis für alle vier Parteien sich innerhalb der gewählten Toleranzgrenzen befindet. Wie vorhin besitzt diese Anzahl lediglich indikativen Wert. Der genaue Wert läßt sich mit einer theoretischen Berechnung bzw. Simulation ermitteln: Die Chance beträgt 9,8%. Der Demoskop müßte also bei der Bekanntgabe des Resultates in der obigen Form dem Auftraggeber mitteilen, daß das Umfrageergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90% falsch ist.

Greift der langsam verzweifelnde Demoskop zu einem Spielraum von 4% für die großen Parteien und zu einem solchen von 2% für die kleinen, dann hat er die Ergebnisse der beiden ersten repräsentativen Querschnitte in der Form

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

1.Wdh.

38,3% - 42,3%

39,1% - 43,1%

7,6% - 9,6%

8,0% - 10,0%

2.Wdh.

42,1% - 46,1%

36,4% - 40,4%

7,7% - 9,7%

6,7% - 8,7%

bekanntzugeben und ebenso die weiteren. Der Auftraggeber wird ihm entgegenhalten - sei es ein Mediengewaltiger oder ein Politiker - daß Umfrageergebnisse in dieser Form keine politisch relevante Information mehr beinhalten, weil der Spielraum viel zu groß ist. Was soll der arme Demoskop darauf erwidern? Er könnte seinen Auftraggeber bitten, er möge doch mit ihm zusammen die Schäfchen in der obigen Tabelle zählen. Dann könne er sich selber überzeugen, daß trotz des peinlich großen Spielraums nicht einmal die Hälfte der 100 repräsentativen Querschnitte die Eigenschaft besitzen, daß das Wahlergebnis für alle vier Parteien sich innerhalb der Toleranzgrenzen befindet (nur 43 haben diese Eigenschaft). Wir können dem Demoskopen und seinem Auftraggeber versichern, daß die exakte theoretische Berechnung (bzw. Simulation) auf der Basis des gewählten Spielraums eine Chance von 44,5% ergibt. Dem Auftraggeber bleibt der Trost, daß die nichtssagenden Umfrageergebnisse wenigstens mit einer Wahrscheinlichkeit von über 55% falsch sind - wobei der Interviewfehler noch nicht berücksichtigt ist - und dem Demoskopen Selbstkosten in fünfstelliger Höhe bescheren.

Wen wundert es bei dieser Sachlage, daß der Demoskop und einige seiner Auftraggeber zum Schluß kommen, es sei für beide besser - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven - die Flucht nach vorne anzutreten. Die Toleranzen gehen über Bord und in Striptease-Manier erscheinen die Umfrageergebnisse splitternackt auf dem Markt. Als Feigenblatt wird der fromme Spruch vom repräsentativen Querschnitt zelebriert. Spielraum und Chance mögen ihre akademische Berechtigung haben, aber sie sind nun einmal praxisfremd, weil sie dem Demoskopen und seinem Medien-Auftraggeber die Meistbegünstigten-Klausel vorenthalten. Das Betriebsrisiko ist beim Demoskopie-Endverbraucher billiger aufgehoben und außerdem bleibt die Illusion von exakten Zahlen erhalten.

Ein Spielverderber wird den Demoskopen und seinen Auftraggeber daran erinnern, daß in den demoskopischen Lehrbüchern üblicherweise das Hohe Lied von einer Sicherheitswahrschein-lichkeit von 95 und noch mehr Prozent gesungen wird. Leute, die nur mit 90% operieren, gelten schon fast als Nestbeschmutzer.

Nimmt man 95% ins Visier, so ist - wie gleich gezeigt wird - der Spielraum für die großen Parteien auf 8,2% und für die kleinen auf 4,2% anzusetzen. Die Resultate des ersten und zweiten repräsentativen Querschnittes der obigen Tabelle sind dann in der Form

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

1.Wdh.

36,2% - 44,4%

37,0% - 45,2%

6,5% - 10,7%

6,9% - 11,1%

2.Wdh.

40,0% - 48,2%

34,3% - 42,5%

6,6% - 10,8%

5,6% - 9,8%

anzugeben und ebenso die weiteren. Der Demoskop wird erleichtert feststellen, daß mit dieser Präsentation der Umfrageergebnisse nun eine wahre Aussage gemacht wird, denn das Wahlergebnis befindet sich erstmals innerhalb der gewählten Toleranzgrenzen, was bisher nicht der Fall war. Diese Eigenschaft weisen insgesamt 98 der 100 obigen Wiederholungen auf, nur die Nr. 73 und Nr. 82 tanzen noch aus der Reihe. Natürlich kann man daraus nicht schließen, daß die Fehlerrate bei diesem Spielraum lediglich 2% beträgt. Die exakte Berechnung mit der Multinomialverteilung (bzw. mit einer hinreichend großen) Simulation ergibt - wie oben angekündigt - eine Chance von 95,6% dafür, daß die durch die Auslosung verursachten Abweichungen für die großen Parteien höchstens ±4,1% und für die kleinen höchstens ±2,1% betragen. Es versteht sich von selbst, daß bei solchen Abweichungen kein Mensch mehr an Meinungsumfragen und Prognosen interessiert ist. Die Streuung von Stammtischschätzungen wird erheblich geringer sein.

In ihrem Buch "Umfragen in der Massengesellschaft" pflegt Frau Noelle-Neumann in Sachen Spielraum die Vorstellung

"Es haben nicht alle Werte der Toleranzspanne (=Spielraum) die gleiche Wahrscheinlichkeit, bei der Stichprobenziehung (=Auslosung des repräsentativen Querschnittes) gezogen zu werden, sondern die dicht am wahren Wert liegenden haben eine größere Chance, .... Infolgedessen kann man sagen: der in der Stichprobenziehung gefundene Wert hat eine größere Wahrscheinlichkeit als andere Werte, innerhalb der Toleranzspanne auch der wahre Wert zu sein."

Das klingt wie eine posthume Rechtfertigung ihrer Gewohnheit, die Prognose-Zahlen mit einer Nachkommastelle zu verschnörkeln, anstatt sie mit Anstands-Toleranzgrenzen zu relativieren. Es ist evident, daß die Angabe von einem Spielraum bei vielen Demoskopie-Endverbrauchern den Verdacht von Ungenauigkeit und Nichtwissen erwecken würde, was keine ersprießliche Geschäftsgrundlage darstellt.

Frau Noelle-Neumann legt ihren Wunschvorstellungen betreffend Spielraum die Standard-Normalverteilung zugrunde, welche bei vielen Anwendern den Glauben nährt, daß kleine Fehler häufig auftreten, große hingegen selten. Dies trifft jedoch für die auslosungsbedingten Abweichungen des repräsentativen Querschnittes nicht zu. Das Gegenteil ist der Fall. Kleine Abweichungen bei allen vier Parteien treten praktisch mit der Wahrscheinlichkeit Null auf. Die häufigsten (Vier-Parteien-)Abweichungen liegen bei etwa ±2% für die großen und entsprechend bei etwa ±1% für die kleinen Parteien. Die Verteilungsfunktion (der Vier-Parteien-Abweichungen) ist also zweibucklig und sie weist in der Mitte (um die Null) ein Loch auf. In der graphischen Darstellung auf der folgenden Seite ist die Verteilungsfunktion mit einer durchgezogenen Linie dargestellt; zum Vergleich ist die Standard-Normalverteilung punktiert angegeben. Während bei der letzteren bekanntlich rund 68% bzw. 95% der Werte innerhalb der einfachen bzw. doppelten Standardabweichung liegen, so befinden sich bei der Verteilungsfunktion (der Vier-Parteien-Abweichungen) lediglich 24% bzw. 76% innerhalb des gleichen Spielraums. Der Kurvenverlauf wurde mit einer Computersimulation ermittelt. Es wurden eine halbe Million Auslosungen von repräsentativen Querschnitten vom Umfang 10000 (Zehntausend) vorgenommen - und die Resultate auf repräsentative Querschnitte vom Umfang 1000 umgerechnet. Dadurch konnte der Diskretisierungseffekt reduziert werden, so daß eine optisch ins Gewicht fallende Glättung nicht mehr erforderlich war.

In der folgenden Tabelle ist der Zusammenhang zwischen Spielraum und Chance dargestellt. In der ersten und zweiten Spalte sind die gewählten Spielräume für die großen und kleinen Parteien angeführt. In der dritten Spalte ist die Chance dafür angegeben, daß das Wahlergebnis für alle vier Parteien sich innerhalb der gewählten Spielräume befindet.

Gewählter Spielraum

Chance,

CDU/CSU & SPD

FDP & Grüne

daß der gewählte Spielraum eingehalten wird

±0,5%

±0,25%

1,25 Prozent

±1,0%

±0,5%

9,8 Prozent

±2,0%

±1,0%

44,5 Prozent

±2,1%

±1,1%

50,8 Prozent

±3,0%

±1,5%

78,2 Prozent

±3,6%

±1,8%

89,8 Prozent

±4,0%

±2,0%

94,2 Prozent

±4,1%

±2,1%

95,6 Prozent

±5,0%

±2,5%

98,9 Prozent

Eine "Repräsentativumfrage" ohne gleichzeitige Angabe von Fehlerspielraum und Chance ist so irreführend wie die Reklame einer Landeslotterie, durch den Kauf von Losen werde man Millionär.

Aber diese entscheidende Information zur Beurteilung der Aussagefähigkeit von Umfrageergebnissen erreicht den Demoskopiekonsumenten nie. Vor allem im politischen Bereich fällt der Spielraum einer stillen Symbiose von Politikern, Medien und Meinungsforschungsinstituten schmerzlos zum Opfer. Wer würde eine Prognose mit einem Spielraum von 8% für die großen und 4% für die kleinen Parteien veröffentlichen? Etwa der Spiegel, der Stern, die Welt, die FAZ oder gar die Bildzeitung? Etwa das Politbarometer des ZDF oder der Meinungsreport der ARD? An Einschaltquote Null sind weder ZDF noch ARD interessiert. Die Bildzeitung, der Stern, die Welt .... und auch der Spiegel wollen ihre Auflage verkaufen und nicht einstampfen.

 

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