VIII Pseudo-Trends

Wie wirkt sich der Zufall im Wahlkampf aus? Jedermann will wissen, ob und wie sich die haltlosen Versprechen, die Fernsehdebatten usw. in Prozente umsetzen. Frau Noelle-Neumann hat den Wahlkampf mit Hilfe von zehn "Repräsentativumfragen" verfolgt - es wurden jeweils 1000 Wahlberechtigte befragt - und in DIE WELT in ganzseitigen Reportagen darüber berichtet:

exklusiv WELT - Wahlbarometer

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

Rest

1.Befragung: 29.10 - 10.11.86

46,5%

36,6%

6,4%

10,0%

0,5%

2.Befragung: 14.11 - 17.11.86

45,2%

34,6%

8,2%

11,7%

0,3%

3.Befragung: 21.11 - 25.11.86

47,2%

34,7%

6,5%

11,2%

0,4%

4.Befragung: 28.11 - 02.12.86

48,0%

35,0%

6,9%

10,0%

0,1%

5.Befragung: 06.12 - 09.12.86

46,9%

33,4%

8,5%

10,8%

0,4%

6.Befragung: 13.12 - 18.12.86

48,7%

32,4%

7,8%

10,7%

0,4%

7.Befragung: 23.12 - 30.12.86

46,8%

34,8%

6,0%

11,7%

0,7%

8.Befragung: 03.01 - 07.01.87

44,8%

36,7%

8,5%

9,5%

0,5%

9.Befragung: 10.01 - 14.01.87

44,0%

35,3%

9,6%

10,4%

0,7%

10.Befragung: 15.01 - 19.01.87

44,6%

37,3%

8,9%

8,3%

0,9%

11.Befragung: 15.01 - 23.01.87

46,0%

36,0%

8,5%

9,0%

0,5%

Zeitliches Auf und Ab der Parteistärken

 

CDU/CSU

SPD

FDP

Grüne

Rest

Trend von 1. zu 2. Befragung

-1,3%

-2,0%

+1,8%

+1,7%

-0,2%

Trend von 2. zu 3. Befragung

+2,0%

+0,1%

-1,7%

-0,5%

+0,1%

Trend von 3. zu 4. Befragung

+0,8%

+0,3%

+0,4%

-1,2%

-0,3%

Trend von 4. zu 5. Befragung

-1,1%

-1,6%

+1,6%

+0,8%

+0,3%

Trend von 5. zu 6. Befragung

+1,8%

-1,0%

-0,7%

-0,1%

0,0%

Trend von 6. zu 7. Befragung

-1,9%

+2,4%

-1,8%

+1,0%

+0,3%

Trend von 7. zu 8. Befragung

-2,0%

+1,9%

+2,5%

-2,2%

-0,2%

Trend von 8. zu 9. Befragung

-0,8%

-1,4%

+1,1%

+0,9%

+0,2%

Trend von 9. zu 10. Befragung

+0,6%

+2,0%

-0,7%

-2,1%

+0,2%

Trend von 10. zu 11. Befragung

+1,4%

-1,3%

-0,4%

+0,7%

-0,4%

Ihre Berichte über die "momentanen" Absichten der Wahlberechtigten von Ende Oktober 1986 bis Mitte Januar 1987 sollen den Verlauf des Wahlkampfes widerspiegeln und nicht irgendwelche skurrilen Lotterieeffekte demonstrieren. Allerdings gibt Frau Noelle-Neumann ihre Zahlen wie üblich in nackter Form - d.h. ohne irgendwelche Spielräume - an. Ein Vergleich mit den 10 repräsentativen Querschnitten in Abschnitt I, Seite 9, die alle aus der gleichen Grundgesamtheit stammen, zeigt, daß ihre Trendmeldungen, gar nicht so aufregend sind. Es ist zu beachten, daß die Umfragen von Frau Noelle-Neumann über einen Zeitraum von fast drei Monaten und daher in verschiedenen Grundgesamtheiten stattgefunden haben. Im WELT-Wahlbarometer variierte die CDU/CSU zwischen 44,0% und 48,7%, die SPD zwischen 32,4% und 37,3%, die FDP zwischen 6,0% und 9,6% und die Grünen zwischen 8,3% und 11,7%. Bei den aus der gleichen Grundgesamtheit ausgelosten repräsentativen Querschnitten (Vorwort S.I/9) hingegen variierte die CDU/CSU zwischen 40,3% und 47,1%, die SPD zwischen 34,3% und 41,1%, die FDP zwischen 7,8% und 10,8% und die Grünen zwischen 6,9% und 9,4%. Es scheint also, daß "der repräsentative Querschnitt" auf seine Erstellung per Lotterie mindestens so empfindlich reagiert, wie auf das Gepolter eines Franz Josef Strauß oder den Kassensturz bei der Neuen Heimat. Wir stellen uns daher die Frage, welche Trendmeldungen herauskommen werden, wenn sich die Parteistärken tatsächlich nicht geändert haben, wenn also in Wirklichkeit kein Trend vorliegt. Falls Frau Noelle-Neumanns Ausführungen im Welt-Wahlbarometer überhaupt einen Sinn ergeben sollen, muß man offensichtlich unterstellen, daß sich in diesem Fall ein Bild von praktisch bedeutungslosen Trends ergibt. Trifft dies wirklich zu? Zu welchen Trend-Kapriolen ist der "repräsentative Querschnitt" fähig, weil er per Lotterie erstellt wird?

Dazu gehen wir vom Ergebnis der Bundestagswahl 1987 aus: CDU/CSU 44,3%, SPD 37,0%, FDP 9,1%, Grüne 8,3% und Rest 1,3%. Wir erstellen nun per Lotterie Paare von repräsentativen Querschnitten von jeweils 1000 Wahlberechtigten, die bei der Bundestagswahl eine gültige Stimme abgegeben haben, und werten die damals abgegeben Stimmzettel aus. Dies ist auf einem Computer ganz einfach durchzuführen. Wie der Leser auf den folgenden Seiten sehen wird, entpuppen sich die Trends, die in etwa Null sein sollten, als wilde Pseudo-Trends. Auf der nächsten Seite sind die Resultate von 10 simulierten Paarumfragen abgedruckt, wobei das Ergebnis der ersten und zweiten Umfrage sowie der daraus resultierende Pseudo-Trend angegeben. Auf der übernächsten Seite sind die Resultate von 100 simulierten Paarumfragen in abgekürzter Form aufgeführt, d.h. es werden nur noch die Pseudo-Trends angeführt. Dann folgt ein Vergleich.

Man braucht nichts von Statistik zu verstehen, um aus dem obigen Vergleich der 100 Pseudo-Trends mit den Trendmeldungen von Frau Noelle-Neumann den Schluß zu ziehen, daß ihre Wahlkampfverlauf-Geschichten im Welt-Wahlbarometer eine gewisse Ähnlichkeit mit Hoffmanns Erzählungen aufweisen. Offensichtlich reagiert der "repräsentative Querschnitt" auf die Auswahl per Lotterie genau so spontan und heftig wie auf das Kasperle-Theater zwischen Strauß und Genscher und die Pannen und Querelen innerhalb der grünroten Des-Organisation.

Das erstaunliche ist, daß Frau Noelle-Neumann von ihren Trend-Geschichten überzeugt ist, wie sie am Wahlabend im Fernsehen (SAT1) in eindrücklicher Weise demonstrierte. Nachdem sie, wie bereits erwähnt, um 1800 ihre Prognose verlesen hatte - CDU/CSU 46%, SPD 36%, FDP 8,5%, Grüne 9,0% -, wurden um 1830 die ersten Hochrechnungen für die CDU/CSU im ZDF (45%) und in der ARD (41%) bekannt gegeben, die sich völlig widersprachen. Zu dieser Situation befragt, entwickelte sich der folgende Dialog:

Reporter von SAT1:

"Es geht ja wohl ein bißchen drunter und drüber. Die einen sehen die CDU bei 45%, die anderen bei 41%. Wie kann das denn nun noch ausgehen?"

Frau Noelle-Neumann:

"Also ich kann nur sagen, daß wir ja gesehen haben, daß die CDU in der Weihnachtspause von ihrem Hoch herunterfiel bis auf 44%."

Während sie sprach, griff sie zur Illustration ihrer Ausführungen zu einer Graphik, in welcher der CDU/CSU-Anteil von Oktober 1986 bis Januar 1987 gemäß ihren WELT-Wahlbarometer-Daten dargestellt war. Daß diese Verlaufskurve mit der gestellten Frage betreffend der sich widersprechenden Hochrechnungen nichts zu tun hatte, schien weder sie noch den Reporter zu stören, und sie fuhr fort:

"Ich kann mir denken, daß das bis 44% tatsächlich noch immer runtergegangen ist. Aber ich rechne damit, daß es auf 45% mindestens wieder hochgegangen ist und daß das zusammen mit der FDP, das ist die wichtige Aussage, eben die Mehrheit der Sitze sein wird.

...

Also jedenfalls augenblicklich muß man sagen, daß die CDU deutlich durch die Weihnachtspause verloren hat an einer Führung, die damals bei 48% lag."

In ihrem Buch "Umfragen in der Massengesellschaft" legt Frau Noelle-Neumann ein uneingeschränktes Plädoyer für die Auswahl des repräsentativen Querschnittes per Lotterie ab, wobei sie das Synonym "Zufallsauswahl" vorzieht. Als begeisterte Anhängerin und Verfechterin der Zufallsauswahl bleibt ihr nur noch die (statistisch gesehen) kleine Hoffnung, daß die obigen 100 Pseudo-Trends zufällig völlig aus der Reihe tanzten und deshalb nicht "repräsentativ" seien. Um diesem (im Prinzip berechtigen) Einwand zu begegnen, wurden eine halbe Million Auslosungen von Querschnitten vom Umfang 10000 vorgenommen - und die Resultate auf Querschnitte vom Umfang 1000 umgerechnet. Die Resultate sind auf der folgenden Seite graphisch dargestellt. (Eine optisch ins Gewicht fallende Glättung war nicht erforderlich.) Wie man sieht, zeigt die Verteilungsfunktion der Pseudo-Trends einen ähnlichen Verlauf wie die in Abschnitt VII betrachteten Vier-Parteien-Abweichungen. Sie ist zweibucklig, hat in der Mitte ein Loch, aber die Buckel sind im Vergleich zu VII/8 weiter nach außen gerutscht und das Loch in der Mitte ist größer. Die häufigsten Pseudo-Trends liegen für die großen Parteien bei etwa ±3% und für die kleinen bei etwa ±1,8%. Während bei der Standard-Normalverteilung rund 68% bzw. 95% innerhalb der einfachen bzw. doppelten Standardabweichung liegen, befinden sich lediglich etwa 12% bzw. 56% der Pseudo-Trends innerhalb der gleichen Spielräume. In der Graphik auf der folgenden Seite sind die obigen 10 kleinsten Pseudo-Trends auf den Achsen als Kreise o eingezeichnet. Wie zu erwarten, kuscheln sie sich in der Mitte, im Loch der Verteilung. Die obigen 10 größten Pseudo-Trends sind als Quadrate mit Diagonalen X markiert, sie sind weit außen in der Verteilung zu finden. Zwischen den zehn größten und kleinsten Pseudo-Trends liegen die "Trendmeldungen" von Frau Noelle-Neumann im WELT-Wahlbarometer, die als schwarze Punkte ( gekennzeichnet sind. Wie man sieht, liegen ihre Trendmeldungen unter den beiden Buckeln der Verteilungsfunktion, sie erfreuen sich also der Gesellschaft der am häufigsten vorkommenden Pseudo-Trends.

In der folgenden Tabelle sind einige Werte der obigen Verteilungsfunktion aufgeführt. In der ersten und zweiten Spalte sind die gewählten Grenzen aufgeführt. In der dritten Spalte ist die Chance (=Wahrscheinlichkeit) dafür angegeben, daß die Pseudo-Trends für alle vier Parteien die gewählten Grenzen nicht überschreiten.

Gewählter Spielraum

Chance,

CDU/CSU & SPD

FDP & Grüne

daß der gewählte Spielraum eingehalten wird

bis ±0,5%

bis ±0,3%

0,25%

bis ±1,0%

bis ±0,6%

3,1 %

bis ±1,7%

bis ±1,0%

14,4 %

bis ±2,0%

bis ±1,1%

19,9 %

bis ±3,0%

bis ±1,7%

50,4 %

bis ±3,5%

bis ±2,0%

64,9 %

bis ±4,0%

bis ±2,3%

76,8 %

bis ±5,0%

bis ±2,9%

91,7 %

bis ±5,2%

bis ±3,0%

93,2 %

bis ±5,5%

bis ±3,2%

95,4 %

bis ±6,0%

bis ±3,4%

97,3 %

Wie kann ein Wahlforscher auf der Basis von Meinungsumfragen von einem "Trend" reden, wenn er diesen nicht von einem Pseudo-Trend unterscheiden kann? Aus der obigen Tabelle geht nämlich hervor : Haben sich die Parteistärken nicht geändert, dann täuschen zwei aufeinanderfolgende Meinungsumfragen von je 1000 Interviews mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 50% vor, daß für mindestens eine Partei eine markante Veränderung eingetreten ist: Laut Wiederholungsbefragung ist eine der beiden großen Parteien (CDU/CSU oder SPD) um mindestens 3% oder eine der beiden kleinen (FDP oder Grüne) um mindestens 1.7% gestiegen/gefallen, während sich in Wirklichkeit nichts geändert hat!

Will ein Wahlforscher mit der üblichen statistischen Sicherheit von 95% ausschließen, daß der von ihm "ermittelte" Vier-Parteien-Trend nicht für mindestens eine der vier Parteien eine Laune des Zufalls darstellt, dann muß er gegenwärtig für eine der großen Parteien eine Änderung von mindestens ±5,5% oder für eine der kleinen eine solche von mindestens ±3,2% nachweisen (bei je 1000 Interviews).

Um es boshaft auszudrücken: Die "Gunst" des Zufalls beschert den Wahlforschern für mindestens eine Partei laufend Neuigkeiten und Schlagzeilen. Was sich wirklich abspielt, das weiß kein Mensch, und die von den Meinungsforschungsinstituten gelieferten Daten über das zeitliche Auf und Ab der Parteistärken - z.B. CDU/CSU -2.8%, SPD +1,9%, FDP +1.3%, Grüne -0.4% - haben reinen "Horoskopcharakter". Sie täuschen Veränderungen vor, die quantitativ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch sind und die häufig nicht einmal qualitativ richtig sind.

 

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