Pressemitteilung

Bundestagswahl 1994: Wählertäuschung mit Wahlprognosen

Erinnerung an die Bundestagswahl 1990: Die deutschen Meinungsforscher prognostizieren den Grünen einen sicheren Einzug in den Bundestag. Während Frau Noelle-Neumann in SAT 1 am Wahlabend mit 8.5% auf die Bühne ging - nachdem sie im Vorfeld der Wahl die Partei in der FAZ wochenlang mit rund 10% an die Decke genagelt hatte - schnitten ihr die Wähler mit 4.8% die Beine ab.

Meinungsforscher betreiben mit aktuellen Stimmungsbildern und Prognosen über den Ausgang der Bundestagswahl systematisch Wählertäuschung in wissenschaftlicher Verpackung. Die Praktiken der Meinungsforscher sind möglicherweise auch ein Fall für den Staatsanwalt. Wählertäuschung ist nämlich nach Paragraph 108a des Strafgesetzbuchs mit bis zu zwei Jahren Gefängnis strafbar. Nach vorherrschender Rechtsauffassung wird damit lügnerische Wahlpropaganda von Parteien, Medien usw. nicht erfaßt.

Getäuscht werden diejenigen Wähler, die ihre Wahlabsichten wegen Umfrageergebnissen ändern. Etwa weil sie nicht wählen gehen, in der Annahme, das Wahlergebnis stehe schon fest, oder weil sie aus taktischen Gründen ihre Zweitstimme einer anderen Partei geben, als sie ursprünglich wollten: CDU/CSU-Wähler schwenken zur FDP oder umgekehrt, SPD-Wähler gehen zu den Grünen über oder umgekehrt. Solche Wähler werden mit pseudo-exakten Zahlen irregeführt.

Der juristische Tatbestand der Täuschung - d.h. Erstellung oder Vorspiegelung falscher Tatsachen bzw. Unterdrückung wahrer Tatsachen - gehört zu den Routinetätigkeiten von Meinungsforschern, wenn sie die Umfrageergebnisse auf die Sonntagsfrage "Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?" zu Wahlprognosen verarbeiten. Denn:

CDU/CSU SPD B90/Grüne FDP PDS Republikaner
41% 36% 9% 6% 4% 2%

in wissenschaftlich vertretbarer Form wie folgt aussehen:

CDU/CSU SPD B90/Grüne FDP PDS Republikaner
37% - 45% 32%-40% 6.5%-11.5% 4%-8% 2.5% - 5.5% 1% - 3%

Lotterieschäden in diesem Ausmaß haben zur Folge, daß bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen, wo wenige Prozente über Gewinn und Verlust der Macht entscheiden oder sogar Bruchteile von Prozenten eine Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern lassen können, mit "Repräsentativumfragen" keine brauchbaren Aussagen über die zu erwartende Stärke der Parteien gemacht werden können - ganz zu Schweigen von der Möglichkeit, daß die PDS mindestens drei Direktmandate bekommt.

Und warum das alles?

Meinungsforscher haben die Erfahrung gemacht, daß Umfrageergebnisse, die mit Lotterieschäden und Befragungsfehlern gebeutelt sind, keine brauchbare Basis für Wahlprognosen abgeben. Die Grundlage für dieses Geschäft liefert vielmehr die bisherige politische Stabilität der Bundesrepublik. Weil die Schwankungen der Parteistärken von Bundestagswahl zu Bundestagswahl kleiner sind als die Lotterieschäden bei Umfragen, haben die Meinungsforscher das Pferd am Schwanz aufgezäumt: Die aktuellen Umfrageergebnisse werden so umgeändert, daß der Eindruck von Kontinuität entsteht. Dies wird so gemacht, daß die letzten Wahlergebnisse entlang der vermeintlichen politischen Windrichtung fortgeschrieben werden. Aus diesen Grund werden die Umfrageergebnisse im "konservativen" ZDF nach dem gleichen System geschönt wie im "linken" Spiegel. Wohin dies führt, haben die Wahl"forscher" bei der Bundestagswahl 1990 demonstriert: Nachdem die Grünen 1987 mit 8.3% im Bundestag vertreten waren, prophezeiten ihnen die Demoskopen ein ähnliches Resultat für 1990. Doch die Wähler spielten bei der Fortschreibung nicht mit und schnitten ihnen mit 4.8% die Beine ab.

Deutsche Demoskopen betreiben mit ihren Wahlprognosen eine Zahlenprostitution, die in ihrer Reinheit einmalig auf dieser Welt ist. Wähler - und auch Politiker - müssen lernen, wo die Aussagekraft der Zahlen endet und die Geschäftstüchtigkeit oder die Manipulation der Datenfabrikanten beginnt.

Verantwortlich: Prof. Dr. Fritz Ulmer

Wuppertal, im September 1994

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