counter Bundestagswahl
27. September 2009

Erinnerung an das Fiasko 2005
Bennett Merkel

Editorial aktualisiert

Der taktische Wähler

oder sich selbst zerstörende Prognosen

Die von Meinungsforschern porträtierten Kräfteverhältnisse führen dazu, dass taktische Wähler vor die Alternative gestellt werden, entweder Schwarz-Gelb zum Durchbruch zu verhelfen oder dies unter allen Umständen zu verhindern. Davon könnten FDP und SP profitieren, während die Bilanz für die Union, die Grünen und die Linkspartei eher negativ ist. Klinisch leidet die Union am "Westerwelle-Scherf-Syndrom":
Traditionelle CDU/CSU-Wähler halten mit der Erststimme der Union die Treue, aber mit der Zweitstimme gehen sie nach rechts oder links "fremd", um die Partei in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Solche Verhaltensmuster haben den Ausgang der Bundetagswahl 2005 und der Bürgerschaftswahl in Bremen 2003 maßgeblich geprägt.

Knappe Mehrheit für Scharz-Gelb!?

Die Fronten sind geklärt. So sieht es jedenfalls aus. Demoskopen melden unisono eine knappe Mehrheit für Schwarz-Gelb, die zwar schrumpft, aber eben eine hauchdünne Mehrheit bleibt. Die seit den Achtzigerjahren fast halbierte SPD holte inzwischen leicht auf. Dank der Gutschrift von zwei Prozentpunkten, welche die Demoskopen Steinmeier spendierten, weil er sich im Fernsehduell so wacker geschlagen habe. Selbst wenn das stimmen sollte - was äußerst unwahrscheinlich ist -, wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Aber trotz der gemeldeten knappen Mehrheit von Schwarz-Gelb rudern sämtliche Demoskopen kräftig rückwärts und hissen die weiße Fahne. Ihre Lautsprecher - die ARD, das ZDF, die FAZ, der stern usw. ändern vorsorglich das Musikprogramm. Statt dem Triumpfmarsch aus Aida spielen sie das Adagio in g-moll aus der Trauermusik von Albinoni - zur Abdankung der deutschen Demoskopie.

Nach der letzten Ölung röcheln die Wahl"forscher" noch etwas von Überhangmandaten - bis zu 20 für die Union - welche den Ausgang der Wahlen entscheiden könnten. Dieses Thema wird oft in der Schlußphase eines Wahlkampfes hochgefahren und von Wiederkäuern und Knalltüten feuchtfröhlich aufgegriffen und auf deren Lautsprechern zum Besten gegeben. Für gesicherte Information brauchte man hierfür Zahlen bis auf die Bundesländer und deren Wahlkreise hinunter, die aber nur in den Sternen (und im stern) zu finden ist. Demoskopen bringen ja nicht einmal brauchbare Zahlen für ganz Deutschland zusammen, geschweige denn für die Bundesländer und jeden der 299 Wahlkreise, wo durchschnittlich etwa vier bis acht Wahlberechtigte pro Umfrage befragt werden. Das ist reines Demoskopenlatein.

Dass die lauthals verkündeten Parteienstärken methodenbedingt mit Unsicherheiten bis +/-5% behaftet sind, nehmen die Zahlengläubigen nicht wahr. Der Gott an den sie glauben und dessen Botschaft ihnen vom demoskopischen Klerus und Laienpredigern der Medien dreimal am Tag eingelöffelt wird, heißt Repräsentativ-Umfrage. Dass es sich dabei nicht um eine Gottheit, sondern um ein goldenes Kalb handelt, um welches Zeremonienmeister wie Schönenborn und Schausten vor Wahlen ihre Tänze und Zahlenrituale vorführen - und dies aus purem Eigennutz -, können bzw. wollen die Zahlengläubigen nicht zur Kenntnis nehmen. Sei es, weil das ihr Weltbild stören würde, sei es, dass die Prozentzahlen-Fabrikanten dies nicht an die große Glocke hängen, sei es, dass die Medien dies unter den Teppich kehren. Die Frage, wie die Zahlen zustande kommen, wird nicht gestellt. Die auf Hochglanz polierten Prozentzahlen im ARD-DeutschlandTrend und im ZDF-Politbarometer sind viel zu schön um unwahr zu sein. Tatsache aber ist:

Westerwelle lässt sich von Merkel festnageln

Merkel sitzt der Schock des Demoskopen-Fiasko von 2005 noch tief in den Knochen. Wird es diesmal wieder zu einer bösen Überraschung kommen? Mit dem Albtraum der Ampel wachte sie jeden Morgen auf. Jetzt hat sie die Flucht nach vorne angetreten und energisch auf den Busch geklopft: Westerwelle kam aus der Deckung raus und legte den Fahneneid auf die Union ab - mit dem ihm eigenen Brimborium. Merkels Poker hat sich also ausgezahlt: Reicht es nicht für Schwarz-Gelb, dann macht sie mit Steinmeier weiter und Westerwelle bleibt der weinende Dritte. Sie hat eine klevere, wenn auch kurzfristige Überlebensversicherung abgeschlossen. Die Prämie zahlt Westerwelle. Fragt sich für wie lange?

Arme SPD. Steinmeiers Ampelträume sind zu einer fata morgana geworden. Trittin will zwar Gelb-Schwarz verhindern, sagt (weiß?) aber nicht wie. Nur die Linkspartei lacht sich ins Fäustchen und kann wieder davon träumen, rot-rot-grüne Mißverständnisse in eine Regierungsmehrheit für Wackelkontakte zu verwandeln.

Rechnung ohne den Wirt

Ob diese Rechnungen aufgehen werden, ist eine andere Frage. Die große Unbekannte in dieser Situation ist der taktische Wähler. Was sind seine Überlegungen und welche Schlussfolgerungen zieht er daraus? Für ihn lautet die Frage nicht, zu welcher Partei er sich hingezogen fühlt (und wählen möchte), sondern was er mit seinen beiden Stimmen bewirken kann und will. Dabei ist ihm - im Gegensatz zu vielen Wählern - bewusst, dass Erststimme und Zweitstimme ganz unterschiedliche Funktionen haben.

Viele Wahlberechtigte haben eine falsche Vorstellung von der Bedeutung der Erst- und Zweitstimme. Sie glauben die Erststimme sei die Wichtigere, und die Zweitstimme die weniger Wichtige. Mit der Erststimme kann ein Wähler nur Einfluss darauf nehmen, welcher Kandidat aus seinem Wahlkreis in den Bundestag einzieht (aber nicht auf den Sitzanteil der Partei des Kandidaten im Bundestag). Mit der Zweitstimme dagegen wird die relative Stärke der angekreuzten Partei bestimmt. Gibt ein Wähler seine beiden Stimmen nicht der gleichen Partei, überstimmt er faktisch mit seiner Zweitstimme seine Erststimme. Es gibt seltene Ausnahmen. Die Details kann man in wahlrecht.de nachlesen.

Demoskopen füttern taktische Wähler mit Falschinformation

Für den taktischen Wähler gleich welcher Couleur spielt der Faktor Ampel nach Westerwelles Fahneneid keine Rolle mehr. Dasselbe gilt für die Option Rot-Rot-Grün. Denn diese ist mit Steinmeier nicht zu haben, der aus anderem Holz geschnitzt ist als Madame Ypsilanti. Daher - und infolge der Suggestivwirkung der pseudoexakten Umfrageergebnisse - bleibt dem taktischen Wähler nur noch die Alternative:

Schwarz-Gelb an die Macht bringen oder Schwarz-Gelb verhindern?

 

Was wird er tun?

Entscheidungsfindung für taktische Wähler der FDP und Linkspartei

Beginnen wird mit den "Extremen", der FDP und der Linkspartei. Für den taktischen FDP-Wähler ist die Situation klar. Er wählt mit der Erststimme die Union und mit der Zweitstimme die FDP. Damit verhilft er eventuell der Union zu einem Direktmandat - was ihren relativen Sitzanteil im Bundestag nicht erhöht - und macht sie abmarschbereit Richtung rechts.

Für taktisch orientierte Anhänger der Linkspartei, die ihre Schwerpunkte im Osten hat, läuft die Entscheidung z.T. spiegelbildlich ab. Für einen pragmatischen "linken Taktiker" geht es darum, Schwarz-Gelb unter allen Umständen zu verhindern. Das läuft für ihn auf eine Erststimme für die Linkspartei hinaus, was im Osten zu einem Direktmandat führen kann, aber de facto nicht hilft. Die Zweitstimme geht zwangsläufig Richtung SPD, auch wenn sich das für ihn wie ein Meineid anfühlt. Denn nur so kann er der halbierten SPD den Rücken stärken und die Chancen für die Fortsetzung der großen Koalition über Wasser halten. Unter den "linken Taktikern" gibt es auch Fundamentalisten, welche die SPD schwächen und in die Opposition drängen wollen - also Schwarz-Gelb anstreben - um langfristig Rot-Rot-Grün herbei zu führen. Diese werden mit beiden Stimmen für die Linkspartei votieren.

Entscheidungsfindung für taktische Wähler der Grünen"

Für taktische Grünwähler ist die Situation noch grässlicher als für die Realos in der Linkspartei. Denn nach Trittins Direktive gilt es, Schwarz-Gelb mit allen Mitteln zu verhindern. Also bleibt dem taktischen Grünwähler nichts anders übrig, als seine Erststimme an die SPD zu verschenken (denn sie nützt den Grünen nichts) und mit seiner Zweitstimme zur SPD zu desertieren.

Entscheidungsfindung für taktische Wähler der SPD

Für taktische SPD-Wähler - unabhängig ob ihr Herz mehr links oder mehr rechts schlägt - gibt es nur eine Möglichkeit Schwarz-Gelb zu verhindern und die Chancen für die Fortsetzung der großen Koalition zu erhalten: Erst- und Zweistimme für die SPD. Eine Zweitstimme für die Grünen oder die Linkspartei wäre gänzlich kontraproduktiv, und für die Union jenseits von Gut und Böse.

Entscheidungsfindung für taktische Wähler der Union

Das "Westerwelle-Scherf-Syndrom"

Für die taktischen Wähler der Union sieht das ganz anders aus und sie könnten der Partei erhebliche Stimmenverluste bescheren. Diejenigen Taktiker, die sicher stellen wollen, dass schwarzgelb zum Zuge kommt, wählen mit der Erststimme die Union, mit der Zweistimme aber die FDP. Nur so können sie sicher sein, dass Merkel nicht wieder kippt und mit der großen Koalition "weiterwurstelt". Den Effekt davon hat man bei der Bundestagswahl 2005 gesehen, als die Union unerwartet deutlich verlor und die FDP zulegte.

Ganz anders sieht es für die "linken" Taktiker in der Union aus, die mit der großen Koalition zufrieden waren und möchten, dass diese weiter geführt wird. Sie sehen sich auf Grund der Umfrageergebnisse faktisch gezwungen, mit ihrer Zweitstimme zur SPD zu desertieren (was Henning Scherf 2003 in Bremen zustande brachte). Mit der Erststimme bleiben sie zwar der Union treu, aber das erhöht ihren Sitzanteil im Bundestag nicht.

Entscheidend für den Wahlausgang dürfte sein, in welchem Ausmaß auch traditionelle, nicht-taktische CDU/CSU-Wähler mit der Erststimme der Union die Treue halten, aber mit der Zweitstimme nach rechts oder links "fremd" gehen - mit der Absicht, die Partei in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Solche Verhaltensmuster haben den Ausgang der Bundetagswahl 2005 und der Bürgerschaftswahl in Bremen 2003 maßgeblich geprägt.

Und die Moral von der Geschichte


1.
Taktische Wähler werden manipuliert.

Die Unterschlagung der methodenbedingten Fehler bei der Präsentierung von Umfrageergebnissen beinflußt das Abstimmungsverhalten der taktischen Wähler stark. Ihnen wird vorgegaukelt, sie hätten nur zwei Optionen: Entweder Schwarz-Gelb an die Macht zu bringen oder Schwarz-Gelb zu verhindern. Von dieser Blickwinkel-Verengung profitieren FDP und SPD, während Union, Linkspartei und Grüne Federn lassen werden. Die Frage ist in welchem Ausmaß? Für die Union könnte die Zeche auf 35% minus x zu stehen kommen, für die SPD dagegen heißt die Bescherung 25% plus y. (Man beachte, dass die Werte 35% und 25% nur zur Illustration dienen. Statt 35% könnten ebenso gut 33% oder 37% eingesetzt werden. Entsprechendes gilt für die SPD). Die Unbekannten x und y hängen davon ab, wie viele taktische Wähler es gibt, genauer - geben wird. Denn eines ist sicher. Es wird ihrer immer mehr.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass längst nicht jeder Wähler, der bei Umfragen gesteht, er werde in seiner Wahlentscheidung von Umfragen beeinflußt, ein taktischer Wähler ist. Das sagen auch Wähler, die den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme nicht richtig kapiert haben.


2. "Preisanschreibepflicht" für Umfrageergebnisse.

Um die Täuschung von beinflußbaren (nicht nur der taktischen) Wähler in Zukunft zu unterbinden, müssen Demoskopen und Medien gezwungen werden, die methodenbedingten Unsicherheiten bei Umfragen transparent für jedermann zu machen. Es muss eine "Preisanschreibepflicht" für Umfrageergebnisse geben wie für Waren in Geschäften. Es muss verboten sein,

Union 30-40%, SPD 20-30% und FDP, Grüne und Linkspartei je 8 bis 14%

 

Wenn diese "Preisanschreibepflicht" erfüllt wird, dann werden Wähler mit Umfrageergebnissen nicht mehr getäuscht. In der aktuellen Situation wäre für jedermann klar: Demoskopen haben nichts zu sagen. Die von ihnen bewirkte Blickwinkel-Verengung auf "Schwarz-Gelb oder nicht-Schwarz-Gelb" ist eine Irreführung. Das mag zwar nicht ihre Absicht sein, aber sie nehmen das billigend in Kauf um mit ihren pseudoexakten und manipulierten Prozentzahlen im Geschäft zu bleiben.

Vor Wahlen liefern Umfragen den Medien das Pulver für Schlagzeilen und das Füllmaterial für aufgeblasene Analysen und Klatschspalten. Um nackte Zahlen herum lassen sich tolle Geschichten spinnen - insbesondere über den neuesten Trend -, die davon leben, dass die von der Zufallsauswahl verursachten Fehler verschwiegen werden. Aus diesem Grund denken die Medien nicht im Traum daran, sich von ihren Umfrage-Spielzeugen zu trennen.

 

Weiterführende Information unter:

Urologische Demoskopie (unterhaltsame Grundlagenvermittlung für die Bundestagswahl)
Demoskopischen Knackpunkte (für eilige Leser)
www.wahlprognosen-info.de (ausführliche Darstellung)

 

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